Da Ramses einerseits ein höflicher Frosch war, sich andererseits aber sorgte, dass seine Stimmbänder verkümmern könnten – er hatte seiner Meinung nach einen angenehmen Bariton – hüpfte er oft in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden aus Bärenleben fort, um außer Hörweite des Dorfes seine Quakübungen auszuführen. Aus ihm unerfindlichen Gründen waren nämlich alle Bärenlebener außer ihm der Meinung, dass sein Quaken sehr misstönend sei.
So saß er denn im Juni auf einem luxuriös großen Teichrosenblatt, sang vor sich hin und blinzelte bereits um vier Uhr in den beginnenden Tag, denn in dieser Jahreszeit sind die Nächte kurz. Aber plötzlich wurde er aus seiner Ruhe gerissen: Etwas rauschte, sein Blatt geriet in Schwingungen, wackelte gefährlich, neigte sich zur Seite, und etwas Großes, etwas sehr Großes landete neben ihm darauf. Ramses wurde abgedrängt und fiel ins Wasser.
Das war nicht sonderlich tragisch, sind Frösche doch, wie jeder weiß, hervorragende Schwimmer. Aber Frösche sind eben auch höflich, und das rüde Verhalten ärgerte ihn gewaltig. Welcher Bärenlebener wollte ihm zu dieser Stunde und so weit außerhalb des Dorfes einen Streich spielen? Dem würde er es schon zeigen!
Er tauchte auf und öffnete den Mund, um eine Philippika zu beginnen, schloss ihn aber gleich wieder. Auf dem Blatt saß kein Bewohner Bärenlebens. Auf dem Blatt saß ein großer Vogel, und mit Vögeln kannte Ramses sich gar nicht aus. Manchen allerdings sollte man als Frosch besser aus dem Weg gehen, Störchen zum Beispiel, das wusste er. Aber der Eindringling sah nicht wie ein Storch aus.
„Entschuldige bitte, dass ich Dich runtergeworfen habe. Ich muss mich verflogen haben. Und jetzt ist es schon so hell, dass ich fast blind bin.“
Der Fremde hatte also immerhin Manieren, stellte Ramses fest. Aber komisch war doch, dass jemand nicht sehen konnte, wenn es Tag war. Der Sache wollte er auf den Grund gehen.
„Macht nichts!“ sagte er großspurig. „Macht gar nichts. Schon gut! Ich bin übrigens Ramses.“ Wenn ich mich vorstelle, musst Du Dich auch vorstellen, dachte er sich. Er hatte richtig gedacht.
„Ich bin Athene.“
Wenn Du Athene bist, bin ich Zeus, schoss es Ramses durch den Kopf. Oder zumindest Apoll.
„Dann kommst Du also aus Griechenland?“ Er wollte einen Witz machen. „Aus Athen, nehme ich an? Und Du bist bestimmt eine Eule?“
„Ja, ich komme aus Athen, und ich bin genau genommen ein Steinkauz, Athene noctua, aber Du darfst mich eine Eule nennen. Alle machen das.“
Das wäre beinahe schief gegangen – er war auf dem besten Weg gewesen, sich zu blamieren, stellte Ramses fest. Eulen nach Athen tragen, Aristophanes – hier schien sich Antikes anzubahnen.
„Willkommen in Dehland!“ sagte er feierlich. „Du hast bestimmt Hunger, aber außer ein paar Fliegen kann ich Dir leider nichts anbieten. Ich hoffe doch, Du isst keine Frösche?“
„Ich bevorzuge Mäuse,“ erklärte Athene ernsthaft.
„Das beruhigt mich sehr. Sag mal, wohin wolltest Du denn, bevor Du Dich verflogen hast?“
„Zum Kanzler. Zu dem Kanzler, von dem mir berichtet wurde. Der auf den Rat der Bären hört.“
Von diesem Kanzler hatte Ramses auch schon gehört. Im Dorf erzählte man sich, er habe sich einst bei einem Gewitter verirrt und sich, obwohl er zuerst Angst vor sogenannten wilden Tieren hatte, von Bären zur Vernunft bringen lassen. Ramses hielt die Geschichte für wahr. Er wusste auch, dass dieser Kanzler schon lange nicht mehr um Amt und sehr krank war. Ebenfalls erinnerte er sich, dass der Nachfolger des Kanzlers später bei den Bären aufgetaucht war, und er hatte sich wesentlich weniger vernünftig gezeigt als sein Vorgänger. Und dessen Nachfolgerin…
„Du weißt aber, dass Dehland seit zwölf Jahren keinen Kanzler mehr hat, sondern eine Kanzlerin? Sie heißt Angela Merkel. Und ich habe noch nie davon gehört, dass sie auf den Rat von Bären hört.“
Bei dem Namen zeigte Athena Unruhe. Ramses, der inzwischen wieder auf sein Teichrosenblatt zurückgeklettert war, geriet mit seiner Unterlage in eine gefährliche Schieflage.
„Was ist los?“ wollte Ramses wissen.
„Zu Angela Merkel will ich nicht. Auch nicht zu Christine Lagarde. Nicht zu Jerôme Dijsselblom. Nicht zu Claude Juncker. Nicht zu Wolfgang Schäuble. Nicht zu…“
Athena schien die Puste nicht auszugehen, und deshalb unterbrach Ramses sie: „Zu wem willst Du dann?“
Athena antwortete nicht, sondern steckte den Kopf unter ihren rechten Flügel. Der Kopf verschwand völlig. Ramses wartete geduldig, obwohl er es merkwürdig fand, auf ein Lebenszeichen eines gefiederten Quaders zu hoffen. Er musste lange warten, bis der Kopf wieder erschien.
„Ich habe nachgedacht. Der Kanzler damals…“
„Der ist alt und sehr krank.“
„Schade.“
„Ja.“
„“Er hat mit den Bären geredet…“
„Ja.“
„Leben die Bären noch?“
„Ja.“
„Bring mich bitte zu ihnen.“
„Gerne. Aber ich gehe mal lieber vor.“
Es gelang Ramses gerade rechtzeitig, Bärdel und Kulle auf ihrem Morgenspaziergang abzupassen.
„Wir haben Besuch aus fernen Ländern!“ quakte er. „Eine Eule! Eine politische Eule! Sie will zum Kanzler, aber das habe ich ihr ausgeredet. Sie kommt zu Euch!“
Bärdel sah Kulle an. Kulle sah Bärdel an. Ungläubig. Verständnislos.
Und schon war sie da. Sie landete auf einem niedrigen Ast am nächsten Baum.
„Guten Morgen!“ grüßte Bärdel. Und gedankenlos fuhr er fort: „Ich hoffe, Du hast gut geschlafen.“
„Guten Morgen. Ich hoffe, Du siehst, dass ich ein Nachtvogel bin. Ich habe nicht geschlafen, sondern bin geflogen.“
„Sie kommt aus Athen!“ platzte Ramses dazwischen.
„Wer hat Dich denn da hingetragen?“ flachste Kulle. Man muss ihm verzeihen – er war noch nicht ganz wach und ließ es an der nötigen Ernsthaftigkeit fehlen.“
„Das war Wolfgang Hildesheimer 1954. Aber ich lebe schon viel länger. Schon seit Aristophanes.“
Schlagartig begann Kulles Verstand auf Hochtouren zu arbeiten.
„Du bist eine literarische Eule? Eine symbolische Eule?“
Athena nickte bescheiden.
Ramses verstand gar nichts. Bärdel nur ein bisschen.
„Du, die Kluge, Symbol der Göttin Athene, weiser Vogel aus dem Land, das die Wiege Europas ist, aus dem der göttliche Stier die Jungfrau in die Fremde trug – Du suchst Rat bei wilden Tieren?“
Bärdel erkannte Kulle kaum wieder. Seinen Hang zur Literatur hatte sein Freund bisher erfolgreich vor ihm verborgen.
„Ich suche Rat bei wilden Tieren, denn mein Land ist unter die Menschen gefallen.“
Athena hatte sich überreden lassen, den Tag zu verschlafen und ihre Geschichte allen Bärenlebenern bei der abendlichen Dorfversammlung zu erzählen. Heute war es später als gewöhnlich – man hatte höflich auf die Dunkelheit gewartet, damit die Eule ordentlich sehen konnte.
„Es ist eine lange Geschichte, aber ich will versuchen, es kurz zu machen. Seit 30 Jahren ist Griechenland Mitglied der Europäischen Union, seit 15 Jahren ist die Währung der Euro. Die damaligen Regierungen haben sich den Euro mit gefälschten Zahlen erschwindelt. Im Land wird schlecht gewirtschaftet, damals wie heute. Die Regierung gab mehr Geld aus, als sie einnahm, und musste für die fehlende Summe Kredite aufnehmen. Die Zinsen für solche Kredite stiegen ständig, weil die Geldgeber immer stärker daran zweifelten, dass sie ihr verliehenes Kapital jemals wiedersehen würden. Schließlich konnte der Finanzminister den Schuldendienst nicht mehr bedienen. Das Land stand vor dem Bankrott Das war vor fünf Jahren.
Ist das soweit klar?“
Alle nickten, aber Piggy, das Schwein, wollte wissen: „Und warum ist Griechenland vor fünf Jahren nicht pleite gegangen?“
„Es wäre eine Blamage für die anderen Euro-Länder gewesen. Das Ansehen des Euro an den internationalen Devisenbörsen wäre stark beschädigt worden. Man beschloss, Griechenland zu helfen. Die Helfer waren zwei Organe der Europäischen Union und der Internationale Währungsfonds.“
„Oh je!“ Na hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, weil sie sich wieder einmal nicht hatte beherrschen können.
Athena richtete mit einem ihrer Augen einen stechenden Blick auf sie. Wenn Eulen schmunzeln könnten, hätte sie es getan.
„Sehr richtig: Oh je! Vor allem der IWF ist knallhart, aber über den wisst Ihr in Bärenleben ja Bescheid, hat Kulle mir erzählt. Wenn der Kredite vergibt, dann immer nach den gleichen Spielregeln: Geld gibt es nur, wenn die Staatsausgaben verringert werden. Wenn also weniger ausgegeben wird für Bildungs- und Gesundheitswesen, für Soziales. Allgemein für den öffentlichen Dienst. Wenn die Staatseinnahmen erhöht werden, also die Steuern. Wenn das Staatseigentum verkauft wird.“
Athena holte tief Luft.
„In Griechenland sind die Renten in den letzten fünf Jahren um zehn Prozent gesenkt worden, die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden um 30 Prozent gekürzt. Jeder dritte Grieche kann sich keine Krankenversicherung mehr leisten. Und fast jeder dritte Grieche ist arbeitslos. Vor fünf Jahren war es noch nicht einmal jeder zehnte. Viele Menschen sind obdachlos geworden, viele hungern.“
Athena schwieg. Die Zuhörer waren mucksmäuschenstill. Sie warteten auf die Fortsetzung des Vortrags. Aber die Eule war am Ende.
„Und jetzt?“ fragte Kulle schließlich sanft.
„jetzt hat Griechenland schon wieder kein Geld mehr. Nur Schulden. Und die Geldgeber stellen neue Bedingungen.“
„Warum kann man denn nicht einfach einen Schlussstrich ziehen? Also Griechenland seine Schulden erlassen?“ schlug Tumu vor.
„Das möchten die Griechen natürlich. Aber nicht die Gläubiger, vor allem nicht die Regierung von Dehland. Niemand erinnert sich offenbar daran, dass diesem Land die Forderungen aus dem Versailler Friedensvertrag weitgehend erlassen wurden. Ohne diese Großzügigkeit der Gläubiger hätte sich Dehland wohl kaum wirtschaftlich erholen können.“
Athena seufzte.
„Ich wollte mit dem alten Kanzler sprechen, dem, der auf die Bären gehört hat. Aber den gibt es nicht mehr, habe ich gelernt. Die neue Kanzlerin, das wissen in Athen alle, hört nicht auf Bären, sondern nur auf Geld. Zu ihr zu fliegen hat keinen Zweck. Das hieße, Eulen nach Berlin tragen. Und davon gibt es in Berlin genug.“
„Was können wir denn tun, um den Griechen zu helfen?“ wollte die alte Bärin wissen.
„Wir können zum Beispiel all das technische Equipment nutzen, das ich im Lauf der Jahre zusammen… zusammengestellt habe,“ meldete sich Manfred. „Über die diversen sogenannten sozialen Medien lässt sich da Meinung machen, und meine Firewalls sind so gut, dass niemand uns entdecken wird. Gleich morgen früh legen wir los – ich garantiere, dass der Shitstorm die Kanzlerin aus dem Bett holen wird. Vielleicht fällt ihr dann ein neuer Spruch ein: ‚Ruinieren unter Freunden – das geht gar nicht!‘ Aber Ihr geht jetzt besser erst mal schlafen -¬ ich muss noch ein wenig basteln.“
Die Bären brummten zustimmend, das Schwein quiekte, und im Augenblick störte es auch niemanden, dass Ramses quakte.
„Und Du bist bitte unser Gast!“ sagte Bärdel zu Athena. „In den Wäldern der Umgebung gibt es Mäuse genug für Deine Bedürfnisse, anderes Kleingetier auch, wonach Dir der Appetit steht, so genau wollen wir das gar nicht wissen.“ Und mit ein bisschen schlechtem Gewissen fügte er hinzu: „Und schlaf schön. Morgen, tagsüber, meine ich.“
Zur Erläuterung:
Die Redensart „Eulen nach Athen tragen“ geht auf den griechischen Dichter Aristophanes zurück, in dessen Komödie „Die Vögel“ sich der Satz findet:
„Wer hat die Eule nach Athen gebracht?“
Die Eule, Symboltier der Göttin Pallas Athene, gilt als Inkarnation der Weisheit.
Und: Eulen waren damals in die Silbermünzen geprägt.
Hier beginnt die Spielwiese der Interpretation: Wie möglich/ unmöglich, sinnlos/ unsinnig ist es, Weisheit bzw. Geld irgendwo hin zu bringen?
Wolfgang Hildesheimer, Meister der kurzen Form und der Ironie, schreib 1954 die Erzählung: „Ich trug eine Eule nach Athen“. Nachzulesen im Archiv der „Zeit“.