…. und sein Nachfolger

Kulles Vorlesung
Bestimmt erinnert ihr euch daran, daß es einem Menschen auf der Welt gibt, der nicht nur weiß, wo das Beerental genau liegt, sondern der auch erlebt hat, wie es dort zugeht. Richtig – der Kanzler. Er hatte sich nach seinem bärigen Abenteuer nur noch gesund ernährt – abgesehen von dem einen oder anderen Glas Champagner, aber das ist ja, wie man in vielen anderen Märchen lesen kann, letztlich auch Medizin -, war viel Fahrrad gefahren und so sehr alt geworden. Aber eines Tages stand Freund Hein auch auf seiner Türschwelle, und der Kanzler ließ sich friedlich davonführen.

War also die Kenntnis von Bärenleben wieder aus der Menschenwelt verschwunden? Nicht ganz. Bei seiner Bürovorsteherin hatte der Kanzler einen Brief deponiert, in dem alles stand, was er über die Bären wußte. „Nur für künftige Kanzler!“ hatte er dick auf den Umschlag geschrieben. Und darunter, genauso groß: „Nur in Zeiten höchster Not zu öffnen!“

Das war natürlich riskant. Vielleicht waren künftige Kanzler böse Menschen, und dieser Brief brachte die Bären in Gefahr. Aber der Kanzler wußte, daß er selbst einmal alles andere als ein guter Mensch gewesen war und daß die Bären ihn völlig verändert hatten. Er vertraute darauf, daß das auch ein zweites Mal klappen konnte.

Es dauerte nicht lange, bis sein Nachfolger erkannte, daß die Zeiten höchster Not angebrochen waren. Seine Situation war verzwickelt, er tanzte auf dem Vulkan und versuchte in den Aerospace zu entkommen, aber dennoch liefen alle seine Schiffe auf Grundeis. Mit markigen Sprüchen versuchte er den Anschein zu erwecken, alles im Griff zu haben, aber auch er wußte, daß niemand ihm mehr glaubte. Wäre nicht gerade Karneval gewesen und hätte er nicht seinen Arbeitsminister gehabt, auf den sich die Wut der Menschen richtete, wer weiß, was ihm geschehen wäre.

Da kam Juliane Weber zu ihm. Sie war inzwischen sehr alt und auch schon ein wenig verwirrt, und so erkannte sie den neuen Kanzler nicht. Kokett zauste sie die Reste ihrer blondierten Locken und flötete:

„Helmut, ich bringe die Rettung! Erinnerst du dich nicht?“

Der neue Kanzler erinnerte sich natürlich an überhaupt nichts, aber in seiner gegenwärtigen Situation war er bereit, sich auch an einen verfaulten Strohhalm zu klammern. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und blies seinen Bauch auf, um dem alten Kanzler ein wenig ähnlicher zu werden. Dann dämpfte er seine Stimme zu einem rauhen Flüstern und sagte mit schlecht gelungenem pfälzischen Akzent:

„Juliane, daß du gekommen bist! Du warst schon immer meine Rettung! Ja, gib sie mir!“

Juliane setzte ihr schönstes Greisinnenlächeln auf.

Eine Sekunde später hatte der Kanzler den geheimen Brief in den Händen.

Er fand ausgesprochen unsinnig, was er da zu lesen bekam. Natürlich konnte jemand wie er, der sich gerade gegen eine Ökosteuer ausgesprochen hatte, mit Ökobären nichts anfangen. Aber andererseits war da die Sache mit dem verfaulten Strohhalm – er wußte wirklich nicht weiter. So beschloß er, für ein paar Tage zu verschwinden. In diesen hektischen Zeiten fanden so viele Runde Tische statt, daß sowieso niemand mehr wußte, wo sich der Kanzler gerade aufhielt. Und wenn die Angelegenheit länger dauern sollte, würde er einfach verlauten lassen, daß er seinem russischen Präsidentenfreund einen Besuch abstattete. Was das Fernsehen aus dem weiten russischen Reich übermittelte, hatte den Wahrheitsgehalt der Bilder vom Golfkrieg – damit ließ sich alles und nichts beweisen.

Zu Hause kramte er lange Zeit im Wandschrank und beförderte aus dem hintersten Winkel einen uralten Rucksack hervor. Seine Frau beschied er kurz, er werde eine Wanderung machen – inkognito. Sie maulte zwar, weil sie lieber mit ihm auf den Bundespresseball wollte, aber als er sie daran erinnerte, daß sie sich ohne sein Kanzlersalär als arbeitslose Gundschullehrerin würde durchschlagen müssen, hielt sie gehorsam den Mund.

Bei Anbruch der Dunkelheit brach er auf und lief die ganze Nacht durch. Am frühen Morgen erreichte er Bärenleben. Natürlich hätte er gar nicht so vorsichtig sein müssen, denn kaum jemand hätte in dem verschwitzten Rucksacktouri den Kanzler erkannt. Aber Prominente überschätzen ihren Bekanntheitsgrad notorisch, und so nutzte er jede Deckung und wich sogar jeder funzeligen Straßenlaterne aus.

„Tach,“ sagte Tumu. „Du hast uns gerade noch gefehlt. Na ja, dann penn erst mal. Wir müssen sowieso noch warten. Einen Schlafsack wirst du doch wenigstens haben?“

Blitzartig hatte den Kanzler seine gewohnte Schlagfertigkeit verlassen.

„Guten Tag,“ stammelte er, „ich bin…“

„Bekannt, bekannt,“ sagte Tumu. „Und brüll nicht so. Die Kinder schlafen noch. Und die Erwachsenen auch. Ich bin nur abgestellt als Empfangskomittee, damit du dich nicht verläufst. Du solltest dich jetzt wirklich ausruhen. Wenn Kulle erst mal da ist, wirst du einiges zu hören kriegen.“

Sie drehte sich um und ließ ihn stehen, wo er stand.

Der Kanzler war zu stolz, um um eine Decke zu bitten. Fluchend kauerte er sich nieder und versuchte, sich mit seinem Rucksack zuzudecken.

Als er frierend aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Zum Räkeln hatte er keinen Platz: Rechts und links von ihm saßen Bären, und als er sich umdrehte, stellte er fest, daß sie in dicht gestaffelten Reihen auch hinter ihm hockten. Alle blickten in dieselbe Richtung. Als er sich die Situation klarmachte, kam er zu dem Schluß, daß er den besten Platz in einem erwartungsvollen Auditorium einnahm. Auf dem freien Platz davor erschienen jetzt zwei Bären: ein großer, rundlicher, gemütlich aussehender Braunbär und ein kleinerer, offensichtlich von derselben Rasse, aber ein wenig heller gefärbt. Der Kleine sah sehr pfiffig aus, was noch dadurch unterstrichen wurde, daß er zu des Kanzlers Überraschung eine große Fliege um den Hals gebunden hatte. Die Versammlung begrüßte die beiden mit Gebrumm.

Baerdel
Kulle
„Willkommen, liebe Bärinnen und Bären,“ sagte Bärdel herzlich. „Willkommen, Mensch.“ Bei diesem Gruß lag deutlich weniger Wärme in seiner Stimme.

„Der frühere Kanzler hat uns verraten, wenn auch posthum. Seinem Leichtsinn haben wir den heutigen Besuch zu verdanken. Der neue Kanzler sucht unseren Rat.“

Der Kanzler wollte arrogant aufbegehren, beherrschte sich aber.

„Wir werden ihm unseren Rat nicht verweigern. Das haben Bären noch nie getan. Aber wir wollen auch von der Situation profitieren und unsere Allgemeinbildung verbessern. Kulles nun folgende Vorlesung wird dem Kanzler Rat geben und uns Informationen.“

Die meisten Bären schlugen die Tatzen gegeneinander, aber auch vereinzelte Buh-Rufe waren zu hören – manch einer erinnerte sich noch gut an Kulles unermüdliche Besserwisserei. Danach trat schnell Ruhe ein.

„Den meisten hier bin ich ja wohl bekannt,“ begann Kulle, „und außerdem hat Bärdel mich gerade vorgestellt. Kulle, Privatgelehrter. Ich spreche heute über das Sein und das Nichts. Das ist nicht gerade wenig, vor allem das Nichts ist ziemlich viel, wie wir merken werden. Es kann also etwas länger dauern. Ich hoffe, ihr habe genug zu essen mitgebracht.“

Das Knurren aus dem Magen des Kanzlers ging im zustimmenden Brummen der Versammlung unter.

„Was ist das Sein?“ fragte Kulle und hob schnell die Hände, als sich Unmut unter den Zuhörern bemerkbar machte. „Nun seid doch nicht so ungeduldig! Unter uns ist ein Mensch, und dem muß man auch Selbstverständlichkeiten ganz genau erklären. Außer ihm wissen wir alle, was das Sein ist: Gemütlich fressen; in der warmen Sonne oder einer trockenen Höhle schlafen; Sex haben und dabei ab und zu Kinder zeugen; die Gemeinschaft pflegen; sie und sich weiterentwickeln. Das macht Arbeit, aber die erledigen alle zusammen, und für Muße bleibt viel Zeit. Richtig?“

Die Bären zuckten nur träge mit den Schultern. Warum bedurften solche Banalitäten ihrer Zustimmung?

„Also richtig,“ bestätigte Kulle sich selbst, weil es sonst keiner tat.

„Sag mal, Kanzler,“ fragte er unvermittelt, „was hältst du eigentlich davon?“

Der Kanzler hatte durchaus Bedenken, in einer Versammlung mit wilden Tieren seine Meinung zu sagen, aber er hatte andererseits auch keine Lust, sich stundenlang unwidersprochen Dummheiten anzuhören.

„Kinderkram! Ammenmärchen!“ knurrte er gereizt. „Steinzeitromantik! Wo bleibt denn da der Fortschritt? Mag ja sein, daß ein solches Leben für euch Bären möglich ist, aber der Mensch als solcher…“

„Was ist denn der Mensch als solcher?“ fragte Kulle. Seine Stimme hatte alle Verbindlichkeit verloren.

Tapfer erklärte der Kanzler: „Der Mensch als solcher strebt ständig nach Erfolg. Deshalb ist es ihm nicht möglich, sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben. So ist er der Motor des Fortschritts, und die Grundlage dafür ist seine überlegene Intelligenz, die ihn von den Tieren unterscheidet. Er…“

Der Kanzler hatte sich in Rage geredet und seine Umgebung dabei völlig vergesssen. Erst das unbändige Gelächter, das jetzt um ihn herum ausbrach, erinnerte ihn wieder daran, wo er sich befand. Was hatte er gerade gesagt? Plötzlich ging ihm siedend heiß die Dummheit zumindest eines Teils seiner Aussagen auf, und ein Gefühl wallte in ihm auf, für das er keinen Namen kannte, denn er hatte es noch nie gespürt. Die Bären hätten ihm sagen können, daß es Scham war, aber er fragte sie nicht.

Kulle begnügte sich mit einem Schmunzeln und verzichtete darauf, die Sache mit der „überlegenen Intelligenz“ breitzutreten.

„So, so, Fortschritt und Erfolg,“ brummelte er stattdessen und tat ganz harmlos. „Das sind für euch Menschen also wichtige Begriffe. Für uns Bären weniger, das hast du ja schon gemerkt. Deshalb kannst du uns sicher erklären, was Fortschritt ist!“

Da der Kanzler sehr eitel war, erkannte er die Falle nicht, sondern fühlte sich geschmeichelt.

„Fortschritt, das ist Weiterentwicklung. Wir Menschen befreien uns von der Abhängigkeit von der Natur, wir erfinden Werkzeuge und Maschinen, wir haben Computer; und alles das erleichtert uns die Arbeit. Wir brauchen viel weniger zu arbeiten als früher und haben trotzdem einen viel höheren Lebensstandard.“

„Demnach,“ sagte Kulle und gab sich nachdenklich, „demnach sind diejenigen Menschen, die gar nicht arbeiten, die Glücklichsten und haben den höchsten – wie hast du es genannt? – Lebensstandard?“

„Ganz so ist es auch nicht,“ murmelte der Kanzler verlegen, „sie sind doch arbeitslos. Deswegen bin ich gekommen: Es gibt immer mehr Arbeitslose, und meine Kassen sind leer. Ich kann ihnen immer weniger Geld bezahlen.“

„Die Arbeitslosen sind also nicht glücklich? Der Lebensstandard hängt also vom Geld ab? Und Geld gibt es bei euch Menschen nicht genug?“ Kulle schoß ohne Pause eine Frage nach der anderen ab.

Die Versammlung lauschte gebannt. Die Bären spürten, daß der Kanzler mehr und mehr in die Ecke gedrängt wurde.

„Eigentlich gibt es viel Geld,“ sagte der Kanzler langsam. „An den Börsen gibt es so viel Geld, daß man dort inzwischen nicht mehr mit Waren handelt, sondern mit Versprechungern auf Waren und mit Versprechungen auf Versprechungen von Waren. Ich weiß nicht, ob ihr das versteht: Es gibt Terminbörsen…“ Hilflos stockte er.

„Ja, und an den Terminbörsen agieren Bullen und Bären und und schieben jeden Tag Milliarden beim Kauf und Verkauf von Fonds und Bonds, und wie die Dinger alle heißen, hin und her,“ ergänzte Kulle ungeduldig. Die Bemerkung: ,Wir sind nicht so blöd, wie du aussiehst`, verkniff er sich. „Danke, das wissen wir. Aber: Wenn es so viel Geld gibt, warum bekommen es nicht die Arbeitslosen?“

„Aber wer verschenkt denn Geld? Geld bedeutet doch Erfolg! Für Geld kann man alles kaufen!“ Der Kanzler war tatsächlich fassungslos angesichts von so viel Naivität.

Kulle schaltete eine kurze Kunstpause ein.

„Ich resumiere,“ sagte er dann.

„Für die Menschen bedeutet Fortschritt, daß immer mehr von ihnen arbeitslos werden. Arbeitslose leben im Unglück. Erfolg bedeutet, viel Geld zu haben und in Saus und Braus zu leben. Wenn immer mehr von euch unglücklich werden, können immer weniger von euch glücklich sein. Ihr nennt das Entwicklung.“

Kulle machte eine weitere Pause.

„Wir nennen das auch ,Entwicklung`. E-n-t-wicklung. Der Faden wird vom Knäuel gewickelt. Das Knäuel ist Körper, ist Form, ist eine Einheit. Der Faden ist formlos, abgeschnitten, bindungslos. Der Faden ist das Nichts. Die E-n-t-wicklung führt ins Nichts.

Die Menschen haben kein Sein.“

Keiner der Bären wagte zu atmen, und deshalb war im gesamten Auditorium gut zu hören, daß der Kanzler tief Luft holte. Er hatte Kulle kaum folgen können, aber er hatte dennoch begriffen, daß der kleine Bär eine grundsätzliche Kritik an der menschlichen Lebensweise geäußert hatte. Das konnte er mit seinem Stolz nicht vereinbaren. Ohne lange nachzudenken, stand er auf.

„Ich danke euch,“ sagte er. „Ihr habt mir sehr geholfen!“

Natürlich meinte er das nicht ehrlich, und die Bären wußten es sehr wohl. Schweigend sahen sie zu, wie er seinen Rucksack schulterte, sich nochmals formell verbeugte – Händeschütteln mit Bären erschien ihm nicht angebracht – und dann mit raschen Schritten im Wald verschwand.

Die Bärenversammlung löste sich langsam auf. Bevor sich alle ein stilles Plätzchen für den Mittagsschlaf suchten, klopften viele Kulle anerkennend auf die Schulter – er hatte zwar keinen Erfolg gehabt, aber er hatte getan, was bärenmöglich war.

„Für diese Kackwurst habe ich mir nun eine Nacht um die Ohren geschlagen,“ klagte Tumu. „Und was hat es gebracht?“

„Reg dich nicht auf,“ sagte Bärdel. „Kulle ist wieder einer von uns, und das wurde höchste Zeit. Außerdem haben wir wohl gelernt, daß wir in unseren Mußestunden noch mehr Bücher lesen müssen. Bücher von klugen Menschen, die gibt es ja auch. Wie es aussieht, werden die Menschen nicht vernünftig, jedenfalls nicht unter diesem Kanzler, also müssen wir es sein. Und wir haben bestätigt bekommen, was wir schon immer wußten, nämlich, daß wir keine E-n-t-wicklung brauchen. Das ist doch was!“

„Stimmt!“ sagte Tumu, gab Bärdel einen Kuß und nahm Kulle in den Arm.

Nach etlichen Stunden strammen Marschierens kam der Kanzler wieder zu Hause an.

„Da bist du ja endlich,“ begrüßte ihn seine Frau. Sie fragte nicht nach seinen Erlebnissen. Sein Hunger, seine Müdigkeit interessierten sie nicht.

„Hier, probier mal! Ich habe dir für den Wiener Opernball einen Frack anfertigen lassen! Paßt? Paßt! Dann komm endlich! Unsere Maschine startet in 45 Minuten!“

Seufzend folgte er ihr. Schließlich wollte er Erfolg haben. Sie wußte eben immer, was wichtig war.