Im Spiegel

 

Im „SPIEGEL“

 

Spiegel:

Herr Kulle, rauchen Sie Havanna oder Brasil?

Kulle:

Ich bin Nichtraucher.

Spiegel:

Aber Sie haben eine Abhandlung über Die Zigarre geschrieben. Kann man das überhaupt als Nichtraucher?

Kulle:

Sie versuchen gerade, ein Interview mit mir über mich zu machen. Können Sie das überhaupt als Nicht-Kulle?

Spiegel:

Touché. Herr Kulle, Sie sind Nichtraucher und Nichtmensch. Von Zigarren verstehen Sie etwas, das kann man nachlesen. Was denken Sie von Menschen?

Kulle:

Das kann man auch nachlesen, und zwar in meiner Habilitationsschrift.

 

Spiegel:

Vielleicht erzählen Sie uns trotzdem etwas.

Kulle:

Am Beispiel des Spiegel kann ich Ihnen erzählen, daß Menschen nicht nach Effizienzkriterien handeln, sondern rein gewinnorientiert. Wären Sie – was sinnvoll wäre – an möglichst großem Output bei möglichst geringem Input orientiert, hätten Sie Ihre Leser jetzt auf meine eben erwähnte Arbeit verwiesen. Da Sie aber auch am nächsten Montag wieder eine möglichst dicke Zeitschrift auf den Markt werfen müssen, die genügend Anzeigenkunden lockt und mit „Focus“ zumindest optisch konkurrieren kann, werden Sie dieses Interview noch eine Weile fortführen wollen. Ergebnis: Viele Bäume werden zerhäckselt, und auf tausenden von Seiten steht das gedruckt, was auf anderen Seiten auch schon steht.

Spiegel:

Sie haben also etwas gegen unser Wirtschaftssystem?

Kulle:

Überhaupt nicht.

Spiegel:

Eben haben Sie sich aber sehr kritisch darüber geäußert.

Kulle:

Irrtum Ihrerseits. Ihr Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, ist ein in sich logisches und konsistentes System, das allerdings den Fehler hat, so angelegt zu sein, daß es sich in relativ kurzer Zeit selbst killt. Dagegen habe ich überhaupt nichts. Wenn Sie so wollen, ist auch die Sonne ein solches System – sie funktioniert, bis sie in etwa vier Milliarden Jahren ausbrennen wird. Mein Vorwurf richtet sich, wie Sie bemerkt haben sollten, gegen die Menschen, die die Kurzlebigkeit des Kapitalismus nicht erkannt haben und noch heute nicht erkennen, die noch heute gegenüber diesem System eine regelrechte Heilserwartung pflegen.

Spiegel:

Herr Kulle, glauben Sie an Gott?

Kulle:

Wieso weichen Sie plötzlich vom Thema ab?

Spiegel:

Tun wir doch gar nicht. Sie sprachen soeben von Heilserwartung.

Kulle:

In der Tat, ja. Nun gut. Warum wollen Sie das wissen?

Spiegel:

Unsere Leser interessiert es bestimmt, ob ein Bär, zumal ein intellektueller, an Gott glaubt.

Kulle:

Sie meinen den Teil Ihrer Leser, der dem Spiegel wegen bzw. trotz dessen ständiger Angriffe gegen die katholische Kirche die Treue hält? Ich werde Ihre Klientel enttäuschen: Ich glaube an Tussi.

Spiegel:

Wer ist Tussi?

Kulle:

Tussi ist eine Plüschfröschin, in ausgestrecktem Zustand etwa 1,50 Meter lang. Sie hat das Weltall erschaffen und repariert es bei Pannen beständig. Ihr Geliebter Murkel, ein kleiner Plüschhund, teilt…

Spiegel:

Entschuldigen Sie, Herr Kulle, daß wir Sie unterbrechen, aber Sie haben da gerade ein interessantes Problem angesprochen: Plüsch.

Kulle:

Ach ja?

Spiegel:

Nun, da wir über Menschen reden, sollten wir Phänomene des Lifestyles nicht außer Acht lassen. Den Menschen der 90er Jahre zieht es wieder ins Heim, zur Gemütlichkeit, also zum Plüsch. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Kulle:

Vielen Dank, daß Sie mich einen Intellektuellen geheißen haben. Eben habe ich gerade daran gezweifelt, einer zu sein, denn ich konnte Ihren Gedanken nur mit Mühe folgen. Vermutlich sind Bären den Menschen doch unterlegen – aber die Idee möchte ich momentan nicht weiter verfolgen.

Spiegel:

Schade, das hätte interessant sein können.

Kulle:

Schult der Spiegel seine Redakteure eigentlich im Umgang mit Ironie?

Spiegel:

Selbstverständlich. Wieso fragen Sie?

Kulle:

Lassen wir das. Was Ihre Frage betrifft: Der Mensch der 90er Jahre, den Sie bei Ihrer These im Blick haben, ist Angehöriger einer sowohl relativ als auch absolut schrumpfenden Minderheit. Er ist Angehöriger der Mittelklasse und lebt vorzugsweise in Nordamerika oder Europa. Er leistet sich das, was man cocooning nennt, weil er es sich leisten kann, aber weil er zu diesem Verhalten auch gezwungen wird.

Spiegel:

Eine sehr zweifelhafte These!

Kulle:

Wieso? Die schon vor Jahrzehnten konstatierte und heute auch für jeden spürbare Unwirtlichkeit der Städte, die Unsicherheit im öffentlichen Raum, primär bedingt durch das Auseinanderfallen der Gesellschaft, führen zu einem Vermeidungsverhalten. In der häuslichen Gemütlichkeit, im Plüsch, wenn es der denn sein muß, ist man einfach sicherer. Zudem bietet sich im privaten Bereich die Möglichkeit, den erworbenen Wohlstand – von den silbernen Messerbänkchen bis zur Armani- Küchenausstattung – gefahrenfrei zu präsentieren.

Der Durchschnittsmensch der 90er Jahre dagegen hat mit diesem Typus nichts zu tun. Er verelendet zunehmend, ist perspektivlos, im Extremfall auf der Flucht.

Spiegel:

Sie machen es Ihren Interviewern nicht gerade leicht.

Kulle:

Wieso nicht?

Spiegel:

Unsere Frage zielte auf die neue Gemütlichkeit, und Sie landen ganz schnell bei internationalen Flüchtlingsproblemen.

Kulle:

Entschuldigung, ich bin eben doch nur ein Bär.

Spiegel:

Da wir nun schon dabei sind: Wie sehen sie die Zukunft der Migrationsbewegungen?

Kulle:

Positiv.

Spiegel:

Das müssen Sie uns erklären.

Kulle:

Sie meinen vermutlich, ich soll verdeutlichen, wie ich zu dieser Einschätzung komme. Ganz einfach: Betrachtet man die Wanderungsbewegungen der Vergangenheit und Gegenwart und berücksichtigt dazu die politischen Konstellationen in verschiedenen Regionen der Welt, kommt man zu dem Ergebnis, daß mit großer Wahrscheinlichkeit soziale und politische Diskontinuitäten zunehmen werden. Migrationsbewegungen werden dementsprechend anwachsen, sich also positiv entwickeln.

Spiegel:

Sie haben einen merkwürdigen Begriff von positiv.

Kulle:

Einen mathematischen.

Spiegel:

Beschäftigen Sie sich mit Mathematik?

Kulle:

Regelmäßig, in meiner Freizeit. Es gibt kaum etwas Besseres, um logisches Denken zu trainieren. Schach ist allerdings ebenso gut.

Spiegel:

Hätten Sie Lust, gegen Deep Blue zu spielen?

Kulle:

Warum nicht? Aber nur, wenn er seine menschlichen Berater zu Hause läßt. Gegen Kasparow würde ich verlieren. Ich bin schließlich nur ein Bär und Amateur.

Spiegel:

Herr Kulle, möchten Sie ein Mensch sein?

Kulle:

Nein.


Spiegel:

Warum nicht?

Kulle:

Lesen Sie das Interview.

Spiegel:

Möchten Sie abschließend noch etwas bemerken?

Kulle:

Ich danke meiner Sekretärin.

Spiegel:

Herr Kulle, wir danken für das Gespräch.