Ukrainekrieg

„Onkel Bärdel, Onkel Bärdel, entschuldige bitte! Wir wollten Dich nicht stören, Du bist doch immer so beschäftigt. Eigentlich haben wir eine Frage an Onkel Kulle, aber der ist so merkwürdig und hat uns gar nicht beachtet…“

Dass Kulle die Eisbärenzwillinge nicht beachtete, war in der Tat merkwürdig. Schließlich waren die beiden seine Lieblinge, er hatte sie zusammen mit Athabasca  erzogen und war stolz auf sie. Bärdel konnte sich nicht erinnern, dass Kulle sie auch nur einmal ignoriert hatte.

„Was ist denn so Ungewöhnliches an Kulle?“ wollte er wissen.

„Er ist durch die große Dorfhöhle gerannt und hat in allen Ecke nach seiner roten Fahne gesucht. Um die hat er sich schon lange nicht mehr gekümmert, aber jetzt wollte er sie unbedingt haben. Schließlich hat er sie in irgend einem dunklen Spalt gefunden. Sie war voller Spinnweben und Löcher, und die Farbe war auch völlig ausgeblichen.

Erst hat er versucht, sie sauber zu machen und zu reparieren. Aber dann hat der alle seine Krallen ausgefahren und sie so energisch zerfetzt, dass nur noch winzige Stoffstücke übrig sind.“

„Das ist alles richtig, was Na sagt, aber da fehlt noch einiges“, warf Nuk ein. „Onkel Kulle hat die ganze Zeit lang Selbstgespräche geführt. Wir haben davon nicht viel verstanden, jedenfalls nicht alles. Es ging um selbst verschuldete Aufklärung und um Krieg und ewigen Frieden. Um einen Levi-Nathan – oder so ähnlich. Um die Vereinten Nationen. Um Mittel, die den Zweck heiligen. Oder vielleicht auch andersrum. Und um Dummheit. Immer wieder um Dummheit.“

„Onkel Bärdel, wir machen uns Sorgen um Onkel Kulle!“ sagten beide im Chor.

Bärdel seufzte. „Das kann ich gut verstehen“, meinte er. „Ich verstehe, glaube ich, auch, warum Kulle so komisch ist. Er macht sich nämlich auch Sorgen.“

Nanuk machten große Augen. „Worüber denn, Onkel Bärdel?“

„Dass in der Ukraine seit mehr als drei Monaten Krieg ist, das habt Ihr schon mitbekommen, oder?“

„Klar, Onkel Bärdel!“ Na war wie so oft schneller mit der Antwort als ihre Schwester. „Russland hat die Ukraine angegriffen, weil das Land von Faschisten regiert wird, und eigentlich sollte das Land zu Russland gehören. Jedenfalls sagt das Putin.“

„Wir wissen, dass Krieg etwas Schreckliches ist.“ Nuk machte ihre Position klar. „Kriege sollten verboten werden. Werden sie aber nicht. Es gibt doch immer und in vielen Ländern Krieg. Was ist so schlimm an diesem Ukraine-Krieg, dass Onkel Kulle sich Sorgen macht?“

„Es ist nicht richtig, dass Kriege nicht verboten sind. Fast alle Staaten dieser Welt sind Mitglied der Vereinten Nationen, und zu deren Grundsätzen gehört ein allgemeines Gewaltverbot. Das verbietet den Mitgliedsstaaten in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Bärdel war froh, dass er nicht bei allen politischen Vorträgen, die Kulle hielt, geschlafen hatte.

„Wenn das so ist, Onkel Bärdel, dann dürfte es doch keine Kriege geben. Es gibt sie aber, wie Nuk richtig sagt!“ Na war sehr empört.

„Nicht jeder hält sich immer und überall an Regeln. Das tun nur die Guten.“

„Und wer sind die Guten, Onkel Bärdel?“

„Demokratisch regierte Staaten ganz bestimmt. Wie Dehland. Oder unser Nachbar Frankreich. Oder die USA.“

Na und Nuk tauschten einen kurzen Blick. Athabasca hatte ihnen immer wieder eingeprägt, dass Bären höflich zu bleiben hatten, auch bei Meinungsverschiedenheiten oder in einem Streit um Fakten. Das galt insbesondere für jüngere gegenüber älteren.

Sie hätten sich natürlich bei Bärdel bedanken und ihrer Wege gehen können. Aber auch Ehrlichkeit gehörte zu Attis Erziehungsprinzipien.

Nuk trat ihrer jüngeren Schwester auf eine Vorderpfote, um ihr klarzumachen, dass sie besser ihr für eine Weile das Wort überließ. Sie kannte Nas überschäumendes Temperament nur zu gut.

„In Bezug auf Dehland hast Du wohl recht, Onkel Bärdel. Die dehländische Rüstungsindustrie hat nur mit Erlaubnis der Regierung Waffen ins Ausland geliefert, mit denen dann Nicht-Dehländer getötet haben und getötet wurden.“

Bärdel schluckte, aber er sagte nichts. Also fuhr Nuk fort.

„Bei den USA liegt der Fall aber anders, denke ich. In Ländern, die sie verächtlich als ihren ‚Hinterhof‘ bezeichnen, haben sie oft gewaltsame Aktionen durchgeführt, obwohl sie Gründungsmitglied der Vereinten Nationen sind. Kuba, die Dominikanische Republik, El Salvador, Nicaragua, Grenada, Panama und Kolumbien – das sind die, die mir gerade einfallen. Ach ja, und Chile natürlich.“

Nuk holte tief Luft.

„Auch in anderen Teilen der Welt haben die USA ihre Interessen verteidigt, wie sie das nennen. Im Vietnamkrieg haben sie ein Kriegsverbrechen an das nächste gereiht, das bestreitet heute niemand mehr, noch nicht einmal die Amerikaner selbst. Sie wollten den Kommunismus zurückdrängen. Und um für den dritten Irakkrieg die Unterstützung des UN-Sicherheitsrates zu gewinnen, haben sie ihren Außenminister nach New York geschickt, der das Gremium schamlos belogen hat. Nein, falsch, hinterher hat er sich öffentlich geschämt, aber erst mal hat er gelogen, gelogen für das angeblich amerikanische Öl.“

Jetzt hatte sich auch Nuk gegen ihren Willen in Rage geredet, und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Bärdel war unter seinem Gesichtspelz ganz blass geworden.

„Onkel Bärdel“, fragte sie zaghaft. „Bist Du mir jetzt böse?“

Bärdel schüttelte den Kopf. „Nein, böse bin ich nicht. Aber erschüttert. Eigentlich weiß ich vieles, was Du genannt hast, aber so geballt…“ Mit ein wenig Hoffnung in der Stimme fragte er: „Kommt denn wenigstens Frankreich besser weg?“

„Ein bisschen. Frankreich schickt Soldaten in ehemalige Kolonien in Afrika, aber es nutzt auch andere Mittel als militärische. Französische Konzerne wie Total und Orange dominieren wichtige Wirtschaftszweige. Mit 15 afrikanischen Staaten hat Frankreich Währungsverbünde, die Reserven liegen bei der französischen Zentralbank. Frankreich kann also jederzeit den Geldhahn zudrehen.

Der wichtigste Grund für die Aktivitäten in Afrika, denke ich, ist Frankreichs Energiepolitik. 56 Atommeiler müssen gefüttert werden, und ein großer Teil des Urans dafür kommt aus Niger und anderen Subsaharastaaten.“

„Also schlimmer kann es ja kaum noch kommen,“ seufzte Bärdel.

Jetzt löste Na ihre Schwester ab. „Es tut uns leid, Onkel Bärdel, aber es kann noch viel schlimmer kommen. Vergiss nicht: Bisher haben wir von den Guten gesprochen.“

„Also kommt jetzt der russische Krieg gegen die Ukraine dran?“

Die Eisbärenkinder schüttelten in perfekter Choreographie die Köpfe, und Na redete weiter. „Russland kommt dran, richtig, aber dieser Krieg muss noch ein bisschen warten.

Ist Dir nicht aufgefallen, dass die früheren Kriege, die Russland geführt hat, kaum jemanden interessiert haben? Zum Beispiel der mit Georgien im Kaukasus vor 14 Jahren? Die Annexion der Krim vor acht Jahren? Der Krieg in Syrien seit 2015, um Assad zu unterstützen, der seine eigene Bevölkerung massakriert?

Ist Dir nicht aufgefallen, dass die politische Opposition in Russland gnadenlos verfolgt wird, ganz offen? Die Menschen wurden und werden eingesperrt, erschlagen, erschossen, verbannt, vergiftet oder verhöhnt, wie es dem Diktator gerade passt.

Ist niemand wirklich beunruhigt darüber, dass russische Troll-Armeen Wahlkämpfe in Demokratien beeinflusst haben, dass sie die öffentliche Meinung majorisieren wollen? Dass Russland Nazis in Europa und Amerika unterstützt?

Ist es nicht so gravierend, dass die Gruppe Wagner nicht nur Kriegsverbrechen begeht, sondern auch das russische System ökonomisch stützt, indem sie zum Beispiel im Sudan Gold fördert?“

Na holte tief Luft.

„Nimm es Dir nicht zu Herzen, Onkel Bärdel. Anscheinend ist dass alles niemandem aufgefallen. Dehland hat gute Geschäfte mit Russland gemacht. Russland hat Dehland Öl und Gas geliefert, und VW hat in Russland Autos gebaut und verkauft.

Erst der Krieg vor der eigenen Tür, an der Grenze zur NATO, hat Entsetzen ausgelöst. Dass Putin so böse sein kann, damit hat man nicht gerechnet. Und schon spricht der dehländische Kanzler von einer Zeitenwende.“

„Ist es denn nicht auch eine? Eine Zeitenwende?“

„Ja und nein, Onkel Bärdel. Die Zeiten, in denen skrupellose Machthaber in imperialistischer Manier sich genommen haben, was sie wollten, sind leider nie zu Ende gegangen. Das sollten unsere Beispiele gezeigt haben.“

Nanuk nickten synchron und sagten im Chor:

„Es ist Zeit für viele Fragen, die lange Zeit nicht ernsthaft gestellt wurden.“

Na: „Ist die Globalisierung am Ende?“

Nuk: „Sind die Vereinten Nationen gescheitert? Kann es einen Neustart geben?“

Na: „Wie kann eine neue europäische Politik aussehen?“

„Wir finden, dass der dehländische Kanzler die Zeitenwende völlig falsch interpretiert. Die Welt braucht nicht mehr Rüstung und mehr Waffen. Man muss nur an eine Highschool in den USA gehen, um zu sehen, was mehr Waffen anrichten!“

Das waren wieder die Zwillinge gemeinsam.

Bärdel war sprachlos. Nanuk wussten so viel, wovon er keine Ahnung hatte – und eigentlich auch nicht haben wollte. Wie sollte er seinen bärischen Seelenfrieden bewahren, wenn er sich dauernd um den Zustand der Welt sorgen musste?

Es schien, als könnten die jungen Eisbärinnen seine Gedanken lesen.

„Onkel Bärdel, das alles muss Dich auch interessieren! Es geht um unsere Zukunft! Guck mal, wir haben auch schon ein Plakat gemalt!“

Na hielt ein großes Blatt Zeichenkarton hoch, auf dem stand: POLAR BEARS FOR FUTURE.

Plötzlich stapfte Kulle heran, warf einen Blick auf das Poster und nickte anerkennend. Zu Bärdel sagte er: „Du musst umgehend eine Versammlung einberufen. Wir müssen reden.“

„Du machst Dir also auch Sorgen wegen des Ukrainekrieges?“

Kulle sah ihn an, als sei Bärdel nicht sein bester Freund, sondern ein Alien aus einer fremden Galaxie.

„Quatsch!“ fauchte er. „Heiße ich etwa Olaf Scholz oder Annalena Baerbock? Bin ich etwa ein ignoranter Mensch? Kann ich die Zeichen an der Wand nicht lesen? Es war doch klar, dass Putin über kurz oder lang zum Mittel des Krieges greifen würde.“

Na und Nuk schauten einander an und lächelten verschwörerisch. Sie hatten es doch gewusst! Sie waren genauso schlau wie Onkel Kulle.

„Worüber müssen wir dann reden, wenn nicht über den Krieg?“ fragte Bärdel verunsichert.

„Das können Dir Na und Nuk sicher sagen. Sie haben ja schon ein entsprechendes Plakat gemalt,“ bemerkte Kulle.

Es war den Zwillingen gar nicht recht, dass sie durch diese Äußerung in den Mittelpunkt gestellt wurden. Sie waren auf eine Antwort nicht vorbereitet. Die vorsichtige Nuk hielt lieber den Mund, während ihre Schwester ein paar Sätze murmelte, in denen wiederholt das Wort ‚Zukunft‘ vorkam.

Kulle erbarmte sich. „Natürlich geht es um Zukunft. Und was ist wichtig für unser aller Zukunft und am allerwichtigsten für Eisbären? Na? Der Klimawandel selbstverständlich. Und worum kümmern sich die Menschen gegenwärtig gar nicht, weil sie mit einem lokalen Krieg beschäftigt sind? Richtig: um den Klimawandel. Und worum werden sie sich wieder nicht kümmern, wenn sie mit dem nächsten angeblich völlig überraschenden Krieg konfrontiert werden?“

„Natürlich um den Klimawandel, Onkel Kulle.“ Na und Nuk waren heilfroh, dass Kulle ihnen die richtige Antwort in den Mund gelegt hatte.

Kulle nickte. „Bleibt nur noch zu klären, aus welcher Ecke dieser Krieg kommen könnte.“ Er sah die Zwillinge erwartungsvoll an, aber die wichen seinem Blick aus.

Bärdel verspürte Mitleid mit den Beiden. Er wollte helfen, aber wie? Am besten mit einer Antwort, die Kulle von ihnen ablenken würde. Mit einer falschen Antwort natürlich, aber das spielte keine Rolle. Er erinnerte sich an wiederholte Klagen von Manfred über Spy-software – was immer das auch sein mochte. Bärdel holte tief Luft.

„Aus China,“ sagte er gepresst.

Kulles Augenbrauen wanderten voller Anerkennung nach oben. „Donnerwetter, das hätte ich Dir gar nicht zugetraut. Natürlich hast Du recht. Die chinesische Regierung in Gestalt der Führungsclique der sogenannten Kommunistischen Partei  hat konsequent und erfolgreich einen digital-totalitären Überwachungsstaat aufgebaut. Damit wurde die Demokratiebewegung in Hongkong zerschlagen, damit wurden die Menschen in der Volksrepublik zu ohnmächtigen Lockdown-Objekten. Die Internierungskampagne gegen die Uiguren in Xinjiang ist da vielleicht der Probelauf, das Tüpfelchen auf dem ‚i’.

Mit diesem Land unter totaler Kontrolle der Partei enthält der Westen wesentlich mehr und wesentlich wichtigere Wirtschaftsbeziehungen als mit Russland. Bei China geht es nicht um fossile Energien, die sowieso bald ersetzt werden sollen. Es geht zum Beispiel um Graphit, Kobalt, Platin, Iridium, Lithium, Titan und Tantal. Die braucht der Westen für die Energiewende, und die kauft er bisher hauptsächlich in China ein. Und deshalb brauchen wir möglichst schnell eine Versammlung.“

„Aha,“ sagte Bärdel ratlos. Er verstand die Zusammenhänge nicht.

„Wir brauchen eine Versammlung, um zu diskutieren, wie sich der Westen rechtzeitig aus der Abhängigkeit von China befreien kann. Wie wir die Menschen im Westen davon überzeugen können, dass blindes Kooperieren mit totalitären Staaten nicht nur gegen demokratische Prinzipien, sondern auch gegen rationale Interessen verstößt. Damit sie vorbereitet sind, wenn China Taiwan überfällt.“

„Aber wie sollen wir das schaffen? Und warum eigentlich?“

„Wie – das weiß ich auch noch nicht. Deshalb ja die Versammlung. Und warum? Das ist doch klar.“ Kulle zeigte auf Nanuk und ihr Plakat.

„Die Eisbären brauchen eine Zukunft.“ 

Juni 2022