Grizzys zweites Interview

25 Jahre nach dem ersten

Zeitschrift:

Guten Tag, Grizzy. Es hat uns viel Mühe gekostet, Sie aufzuspüren. In den letzten Jahren konnten wir Sie auf keiner internationalen Konferenz ausfindig machen. Ihr Twitter-Account ist ebenso gelöscht wie Ihr Facebook-Konto. Sie sind abgetaucht, und wir fragen uns, warum. Umso mehr hat es uns überrascht, dass Sie sich zu diesem zweiten Interview mit unserer Zeitschrift bereit erklärt haben. Hoffentlich wird das unsere Frage beantworten.

Grizzys Plan

Grizzy:

Welche Frage?

Zeitschrift:

Warum sind Sie abgetaucht?

Grizzy:

Wann hat unser Interview damals stattgefunden?

Zeitschrift:

Im November 1997.

Grizzy:

Und wann bin ich – wie nennen Sie das – abgetaucht?

Zeitschrift:

Spätestens vier Jahre danach.

Grizzy:

Das dürfte stimmen. Ist Ihrer Erinnerung nach in diesen vier Jahren Nennenswertes passiert?

Zeitschrift (nach einer langen Pause):

Es gab einen Wechsel in ein neues Jahrtausend.

Grizzy:

Sonst fällt Ihnen nichts ein?

Zeitschrift:

Nun ja…es gab diesen 11. September mit den Flugzeugattentaten in den USA. Das hat damals viel Staub aufgewirbelt, vor allem in den USA. In Anbetracht von nur etwa 3.000 Toten ein bisschen viel Aufregung, wenn Sie uns fragen.

Grizzy:

Heute stehen Sie mit dieser Meinung vermutlich nicht allein. Ich bin allerdings anderer Ansicht. Nine-eleven ist der Hauptgrund für meinen Rückzug.

Zeitschrift:

Warum das denn?

Grizzy:

Weil damals etwas begann, was die menschliche Analyse erst heute verortet: eine Zeitenwende. Die Abkehr von regelbasierten zu gewaltbasierten politischen Beziehungen, international wie national.

Zeitschrift:

Das müssen Sie uns erklären.

Grizzy:

Kein Bär muss müssen, und ein Grizzly müsste? Sie sollten unbedingt Lessing lesen, ‚Nathan der Weise‘. Man kann da viel über den Umgang miteinander lernen, den falschen wie auch den richtigen.

Aber ich will Ihnen meine Position erklären.

Sehen Sie, nach dem Ende der Bipolarität – weiß heute überhaupt noch jemand, was das war?

Zeitschrift:

Wir erläutern es unseren jungen Lesern gern. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die internationale Politik durch den Wettkampf zweier Systeme gekennzeichnet. Die westliche Führungsmacht USA und die Sowjetunion als führende Macht des Ostens  kämpften in verschiedenen Regionen der Welt um Hegemonie und lieferten sich ein exzessives Wettrüsten, auch und vor allem im atomaren Bereich. Zu direkten Kriegen zwischen beiden Mächten kam es jedoch nicht, nur zu Drohgebärden. Deshalb spricht man vom ‚Kalten Krieg‘. 1990/91 zerbrach der ‚Ostblock‘, vor allem aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten.

Grizzy:

Danke.

Also, nach dem Ende der Bipolarität glaubten viele Menschen an ein neues Zeitalter. ‚Der Westen’ hatte gesiegt. Manche sprachen vom ‚Ende der Geschichte‘, was wohl bedeuten sollte, dass das elende Gerangel um die Vormachtstellung besonderer Gruppen vorbei sein könnte. Viele redeten von einer ‚Friedensdividende‘. Das implizierte die Hoffnung, dass die Ressourcen, die bisher dafür aufgewendet wurden, sogenannte feindliche Menschen umzubringen oder zumindest abzuschrecken, nun für sinnvolle Zwecke verwendet werden könnten.

In dieser Phase gab sich also das Raubtier Mensch der Illusion hin, seine Krallen einziehen und samtpfötig mit der Welt und miteinander umgehen zu können.

Zeitschrift:

Wir müssen doch bitten…

Grizzy:

Haben Sie einen Einwand?

Zeitschrift:

Nein. Entschuldigung.

Grizzy:

 Na gut. Ich glaubte zwar nicht an diesen Charakterwandel, war aber vorsichtig genug, mich in die menschliche Politik einzumischen. Meine Motive sind bekannt.

Bis 9/11 und seine Folgen wieder das wahre Wesen des Menschen zeigten.

Zeitschrift:

Was Sie uns erklären wollten.

Grizzy:

Als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September erklärten die USA den sogenannten Krieg gegen den internationalen Terrorismus.

Zu den Maßnahmen in diesem Bereich gehörte die Errichtung eines Gefangenenlagers in Guantanamo auf Kuba für ‚Feinde ohne Kombattantenstatus‘, im Klartext für Menschen, für die die Genfer Konvention nicht gilt. In Guantanamo wurde gefoltert, die Internierungen erfolgten ohne Gerichtsverfahren. Fragen Sie danach doch mal Murat Kurnaz, der saß da fast fünf Jahre unschuldig. Heute lebt er in Bremen.

Nennen Sie das ‚regelbasiert‘ oder ‚gewaltbasiert?‘

Zeitschrift:

Okay, zugegeben, aber das war die Regierung Bush. George Dubbeljuh war wirklich kein lupenreiner Demokrat.

Grizzy:

Die nach ihm kamen auch nicht. Obama, Trump, Biden – unter allen besteht das Lager weiter.

Und was George Walker Bush angeht, so hat er noch in anderer Beziehung nicht gerade regelbasiert gehandelt. Ich meine den Irak-Krieg. Die USA  führten einen sogenannten notwendigen Präventivkrieg, um einen angeblich bevorstehenden Angriff des Iraks mit Massenvernichtungsmitteln auf die USA zu verhindern. Sie hatten dafür kein Mandat vom UN-Sicherheitsrat. Der Angriff war also völkerrechtswidrig. Er war machtbasiert.

Die Suche nach Massenvernichtungswaffen im von ihnen eroberten Irak gaben die USA schließlich ergebnislos auf. Auch die Begründung für den völkerrechtswidrigen Krieg war damit hinfällig.

Zeitschrift:

Sie wollen damit sagen…

Grizzy:

Wieso sollten Sie auch nur ahnen können, was ich sagen will? Ich habe Ihnen zwei Beispiele dafür gegeben, dass sich die Raubtiernatur des Menschen in der Politik am Beginn des 21. Jahrhunderts durchgesetzt hat.

Zeitschrift:

Wie wir Sie kennen, haben Sie dafür noch mehr Beispiele?

Grizzy:

Noch so eine dumme persönliche Bemerkung, und Sie verlassen diesen Raum.

Zeitschrift:

Entschuldigung. Wir sind Ihnen dankbar, wenn Sie uns weitere Beispiele nennen.

Grizzy:

Nun denn. Betrachten wir die Osterweiterung der NATO. Am 12. März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei. 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien. 2009 wurden Albanien und Kroatien aufgenommen. 2017 Montenegro und schließlich 2020 Nordmazedonien. Zumindest die letzten Neuzugänge lassen begründete Zweifel aufkommen, ob die NATO wirklich die Wertegemeinschaft ist, die sie zu sein behauptet. Honi soit qui mal y pense.

Es passt zur menschlichen Natur, dass der russische Despot beunruhigt ist und sein Heil in einem Präventivschlag sucht. Er schließt, so hört man, den Einsatz atomarer Waffen nicht aus. Das ist zwar dumm, aber letztlich nichts Neues. Die vor ein paar Jahrzehnten gewonnene Erkenntnis, dass ein nuklearer Krieg nicht zu gewinnen ist, ist anscheinend in Vergessenheit geraten. Dazu passt, dass immer mehr Staaten bemüht sind, sich zum illustren Klub der Atommächte hinzuzugesellen. Wie sagt Ihr Menschen doch? Viele Köche verderben den Brei…

Zeitschrift:

Sie halten es demnach für falsch, sich zu verteidigen?

Grizzy:

Natürlich nicht. Wenn ich in Alaska Lachse fische und ein Eisbär mir meine Beute streitig macht, verteidige ich meinen Fisch. Wohlgemerkt: Ich verteidige den Fisch. Ich versuche nicht, den Eisbären zu töten.

Zeitschrift:

Wie hätte denn die westliche Wertegemeinschaft, an deren Existenz Sie zu zweifeln scheinen, agieren sollen?

Grizzy:

Ich scheine nicht zu zweifeln, ich zweifle noch nicht einmal, ich leugne ihre Existenz.

Unterhält eine wirkliche westliche Wertegemeinschaft Wirtschaftsbeziehungen mit einem Land, in dem ein Einparteiensystem die totale Informationskontrolle über die eigene Bevölkerung errichtet hat und eine Ethnie, die eigene kulturelle Wurzeln hat, brutal unterdrückt?

Bezieht eine wirkliche westliche Wertegemeinschaft Rohstoffe aus einem Land, dessen Kronprinz einen Mitbürger, einen Journalisten, in einem anderen Land brutal ermorden lässt?

Schaut eine wirkliche westliche Wertegemeinschaft tatenlos zu, wie der Regierungschef eines NATO-Mitgliedsstaates sein Land in eine Diktatur verwandelt? Wie in EU-Mitgliedsländern Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit mit Füßen getreten werden?

Wie kann in einem führenden Land der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft ein Mann Präsident werden, der alles missachtet, was Wahrhaftigkeit ausmacht?

Soll ich meinen Standpunkt noch weiter ausführen?

Zeitschrift:

Vielen Dank, wir haben verstanden. Wir können Ihre Kritik auch nachvollziehen. Aber die Globalisierung, der Welthandel, die internationale Verflechtung, die internationalen Warenströme sind doch die Basis für unseren Wohlstand. Da muss man über manches hinwegsehen.

Grizzy:

Ach ja?

Die Globalisierung führt gerade dazu, dass China stark genug zu sein glaubt, um sich Taiwan einzuverleiben. Sie führt dazu, dass Russland die Ukraine unterjochen will.

Die Globalisierung hat dazu geführt, dass eine Pandemie in den letzten zwei Jahren die Erde fest im Griff hatte und wohl weiter haben wird. Die Globalisierung hat den Klimawandel angeheizt. Die Globalisierung wird in kurzer Zeit vermutlich zu einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit führen.

Sie sehen, die Menschen machen das alles ohne mein Zutun. Deshalb habe ich mich vor zwei Jahrzehnten von der internationalen Bühne zurückgezogen. Ich werde nicht mehr gebraucht. Für den sogenannten Weltuntergang sorgen andere.

April 2022