Eisbären-Kinder-Promotion

„Onkel Kulle, Onkel Kulle!“ Na und Nuk waren völlig außer Atem und konnten nur noch japsen, als sie Kulle endlich gefunden hatten. Dabei war es gar nicht so schwer, ihn aufzuspüren – wie so oft, hockte er in der Bibliothek von Bärenleben, umgeben von Bücherstapeln.

„Was gibt es denn so Dringendes?“ wollte Kulle wissen.

„Onkel Kulle, wir suchen einen Vater!“

„Nun…ja.“ Selbst Kulle konnte ins Stottern geraten. „Wenn mich Eure Mutter korrekt informiert hat, dann habt ihr einen Vater, der in Bärenleben durchaus bekannt ist.“

„Na klar, Onkel Kulle. Wir lieben Grizzy auch sehr. Aber im Moment ist er für uns als Vater nicht geeignet. Wir suchen nämlich einen Doktorvater.“

„Einen…was?“ Selbst Kulle konnte sprachlos sein. Er schluckte. „Ihr wollt…“

„Promoviert werden. Ja.“ sagten Nanuk im Chor.

Wie alt waren die Kinder jetzt? fragte sich Kulle. Er hatte sie zusammen mit Athabasca großgezogen, sie hatten ihre ersten Schularbeiten geschrieben und irgendwann auch glanzvoll ihr Abitur bestanden – das, musste er sich eingestehen, war durchaus schon einige Jahre her. Sie waren gute Denker, hatten sich weitergebildet – warum also sollten sie keinen akademischen Titel anstreben? Vielleicht hatten sie ähnlich Witziges im Sinn wie er seinerzeit1 Kulle, De rerum tabaccorum? Er beschloss, sie ernst zu nehmen, was immer sie auch im Schilde führten.

„Soll ich Euch ein Thema vorschlagen, oder habt Ihr selbst eine Idee?“

„Wir haben eine Idee. Wir schreiben über die Erde.“ Die vorsichtige Nuk schickte, wie so oft, Ihre vorwitzige Schwester Na vor.

„Kleiner habt Ihr es nicht? Eine Dissertation erfasst in der Regel nicht das große Ganze, sondern widmet sich einem besonderen Aspekt,“ gab Kulle zu bedenken.

„Wir haben vor, uns dem besonderen Aspekt eines kleinen Planeten in einem nicht besonders wichtigen Sonnensystem am Rande einer normalen Spiralgalaxis zuzuwenden. Dabei wollen wir uns lediglich auf einen Aspekt des Lebens auf diesem Planeten konzentrieren.“ Na war verärgert, das hörte Kulle deutlich.

„Das ist immer noch ein großes Thema,“ sagte Kulle beeindruckt. „Ich werde dabei gern Euer Doktorvater sein.“

„Super!“ jubelten Nanuk und knufften Kulle so herzhaft, dass ihm der Atem ausging.

„Ein guter Doktorvater will nicht, dass seine Promovenden in die Irre stolpern, deshalb will er wenigstens grob über ihre Absichten informiert sein. Also: Was habt Ihr vor?“

„Wir wollen streng wissenschaftlich vorgehen,“ erklärte Na.

„Das heißt, wir werden uns jeder Polemik gegen unsinnige Ideologien enthalten,“ ergänzte Nuk.

„Aha!“ kommentierte Kulle. „Etwas anders habe ich auch nicht erwartet. Könntet Ihr jetzt bitte konkret werden?“

„Auf dem Planeten Erde gibt es keine Idylle, es gilt stattdessen das Prinzip: ‚Fressen und gefressen werden.‘ Es existiert keine Spezies, die nicht von einer oder mehreren anderen als Nahrung genutzt wird, und kaum eine Art, die sich nicht von einer anderen ernährt,“ behauptete Na.

„Das ist kein Werk einer bösen Macht. Die Evolution hat eben die Bedingungen genutzt, die die Erdatmosphäre ihr bietet.“ Das war Nuk.

„Und welche Bedingungen sind das?“ erkundigte sich Kulle.

„Die menschlichen Wissenschaftler nehmen an, daß die ersten Organismen auf der Erde heterotroph waren. Das heißt, sie verwerteten als Energiequelle organische Verbindungen. Sie lebten also von Leben in der ‚Ursuppe‘, im Urozean. Diese ursprünglichen Nahrungsvorräte waren jedoch irgendwann erschöpft. Was blieb dem Leben zu tun? Schnell wieder aussterben oder unter Selektionsdruck mutieren?

Einige Arten haben den Ernährungswandel geschafft, sie entwickelten sich zu chemotrophen oder phototrophen Organismen. Davon profitierten wiederum die heterotrophen Erstbewohner. Denn zusammen mit dem Wechsel von einer reduzierenden zu einer oxidierenden, also sauerstoffreichen Erd-Atmosphäre ergaben die nun wieder in großer Menge vorhandenen komplexen organischen Verbindungen erneut eine günstige Entwicklungsmöglichkeit für heterotrophe Organismen.

Ein anderer wichtiger Auslöser für Massenaussterben ist Vulkanismus. Die Kalkarindji-Vulkanprovinz im heutigen Westaustralien verursachte…“

„Stop!“ forderte Kulle energisch. „Ihr wollt also eine naturwissenschaftliche Dissertation vorlegen? Über die Bedingungen historischen Massenaussterbens?“

Na und Nuk sahen einander an und schüttelten die Köpfe. „Aber nein, Onkel Kulle. Wir haben uns wohl völlig falsch ausgedrückt. Wir wollen zum Sinn des Lebens forschen.“

Zum zweiten Mal war Kulle sprachlos. Aber nach einer Denkpause fiel ihm etwas ein: „Der Sinn des Lebens besteht im Glücklichwerden durch die Erkenntnis des Wahren und das Tun des Guten, und zwar letztlich zur Ehre Gottes. Richtig?“

Jetzt waren die Schwestern sprachlos. Erst nach einer Weile wagte Na zu fragen: „Ist das Dein Ernst, Onkel Kulle?“

Kulle hielt seinen Kopf still, obwohl ihm sehr danach war, ihn heftig zu schütteln. Aber die Missbilligung war seiner Antwort anzuhören: „Natürlich nicht. Das war ein Beispiel für menschlichen Unsinn. Denn der Sinn des Lebens…“

„…Ist unserer Meinung nach 42!“ platzten die Zwillinge dazwischen.

Es gelang Kulle, nicht laut loszulachen. Stattdessen zwang er sich zu einer ernsten Miene und sagte: „Das ist eine interessante Theorie, die zu verifizieren oder zu falsifizieren der Mühe wert sein dürfte. Denn in der ‚42‘ steckt die vollkommene Zahl ‚6‘, und zwar sieben Mal…“

„Entschuldige, Onkel Kulle, was ist eine vollkommene Zahl?“

„Ihr habt in Mather bei Atti wohl wieder mal nicht aufgepasst, was? Vollkommene Zahlen sind natürliche Zahlen, die gleich der Summe all ihrer positiven Teiler außer sich selbst sind. Die kleinsten vollkommenen Zahlen sind 6, 28 und 496. Es folgen 8.128,  33.550.336 und 8.589.869.056. Aber das nur am Rande.

Also, in der ‚42‘ steckt die vollkommene Zahl ‚6‘ gleich sieben Mal.

Wir befinden uns mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte, induziert von Homo. Und der Bibel zufolge erschuf Gott am sechsten Tag den Menschen, ‚und er sah, dass es gut war’. Ist das Massenaussterben also gut? Ist der Sinn des Lebens das Massenaussterben? Und wenn das so ist: Warum lautet die Antwort dann nicht ‚36‘, sondern ‚42‘? Spielt der siebente Tag, an dem sich Gott von den Mühen der Schöpfung ausruhte, auch eine Rolle? Gibt es vielleicht ein Leben nach dem Leben? Kinder, Ihr habt viel Arbeit vor Euch!“

„Danke, Onkel Kulle! Du bist also einverstanden mit unserer Arbeitshypothese?“

„Im Moment ja. Aber wir sehen uns spätestens in zwei Wochen wieder, und dann berichtet Ihr mir von Euren Fortschritten!“

Nanuk sausten in Richtung der Bibliothek davon. Kulle folgte ihnen, wenn auch langsamer. Er hatte beschlossen, den köstlichen Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams noch einmal zu lesen. Und er hatte Lust, nach langer Zeit wieder einen Blick in seine Dissertation zu werfen.

Spätestens in zwei Wochen, dachte er, würden die Kinder die Sinnlosigkeit ihrer Hypothese verstanden und die ernsthafte Beschäftigung mit ihr aufgegeben haben. Oder sie hätten beschlossen, einen ebenso horrenden Blödsinn darüber zu verzapfen wie er über die Zigarre.

Juni 2023