Zweierlei Maß

Nuk und Na

„Tante Atti, Onkel Kulle! Wir verstehen da was nicht!“

Athabasca und Kulle waren stolz darauf, die Eisbärenzwillinge erzogen und gebildet zu haben. Die Kinder waren groß geworden und hatten gelernt, Wissenslücken auch ohne die Hilfe ihrer Lehrer zu füllen. Aber die Alten genossen es, wenn Na und Nuk zu ihnen zurückkamen.

„Es kommen jetzt so viele Flüchtlinge aus der Ukraine nach Dehland, weil in der Ukraine Krieg ist und die Menschen aus Angst um ihr Leben weglaufen. Wir verstehen nicht, warum es diesen Krieg gibt. Das werden wir später zu klären versuchen, obwohl wir glauben, dass wir keinen Grund für irgendeinen Krieg finden werden. Für unser Problem spielt das aber erst mal keine Rolle. Unser Problem ist, wie man mit diesen Flüchtlingen umgeht.“

Athabasca nahm die groß gewordenen Bärenkinder in die Arme. „Man geht gut mit ihnen um, nach allem, was ich höre,“ sagte sie. „Überall an den Bahnhöfen stehen Freiwillige, die ihnen bei der Orientierung helfen. Sie müssen sich nicht registrieren. Sie brauchen auch keinen Antrag zu stellen, um in Dehland bleiben zu dürfen. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist kostenlos, wenn sie nur ihren ukrainischen Pass vorzeigen. Und wer keine Verwandten oder Freunde hat, bei denen er unterkommen kann, für den sind Notunterkünfte vorbereitet.“

„Das ist es ja gerade!“ erwiderte Na.

Atthabasca hatte schon den Mund offen, um ihr Unverständnis zu artikulieren, als Kulle ihr zuvorkam.

„Kluges Mädchen!“ lobte er.

Na strahlte, während Atti die Stirn runzelte. „Was ist denn mit Dir los?“ grummelte sie.

„Flüchtlinge sind nicht alle gleich, das ist es, nicht wahr?“ fragte er.

„Genau, Onkel Kulle,“ antworteten Nanuk, wie so oft, im Chor.

„Wer will anfangen?“ wollte Kulle wissen.

„Wir, Onkel Kulle!“ sagten Nanuk. Es ging um ein Spiel, das alle liebten: um abwechselnden Informationsaustausch.

„Vor dem Ukrainekrieg stammten die meisten Flüchtlinge, die nach Dehland kamen, aus Syrien, Afghanistan und dem Irak,“ erklärte Nuk.

„Die mussten natürlich alle einen Antrag auf Asyl stellen, damit sie bleiben durften,“ ergänzte Na.

„Wieso ist das eigentlich natürlich?“ brummte Athabasca. 

„War das ein offizieller Redebeitrag, Tante Atti?“ wollte Na wissen.

„Nein,“ sagte Atti. „Entschuldigung. Ich war nur empört.“

„Empörung stattgegeben!“ kommentierte Kulle. Und er fuhr fort: „Weniger als 22% der Antragsteller wurden 2021 als Flüchtlinge anerkannt.“

„Unter den Asylbewerbern, die im Jahr 2021 in Deutschland einen Antrag gestellt haben, waren rund 41 Prozent Mädchen und Frauen. Anders formuliert: Fast 60% waren Männer, junge Männer. Junge Araber.“ Das war Athabasca.

„Die Flüchtlinge hatten einen weiten Weg hinter sich. Sie konnten nicht einfach in einen Zug steigen. Oft haben sie auf abenteuerlichen Wegen über tausend Kilometer zurückgelegt, bevor sie das Mittelmeer erreichten.“ Nuk informierte.

Und Na ergänzte: „Viele Flüchtlinge fahren mit einem Boot über das Mittelmeer. Die Boote werden gegen viel Geld von Schleppern zur Verfügung gestellt. Die Fahrt über das Mittelmeer ist sehr gefährlich, die Boote sind oft überladen und nicht seetüchtig. Die Europäische Union bezahlt zum Beispiel die libysche Küstenwache dafür, dass sie solche Boote aufbringt und nach Afrika zurückgeleitet.“

„Seit 2014 sind im Mittelmeer laut Statistik 24.000 Flüchtlinge ertrunken. Ganz sicher ist das nur ein Teil der Wahrheit.“ Das war Kulle.

„Die Wege, die Flüchtlinge nutzen, verändern sich häufig. 2015 benutzten viele Flüchtlinge die Balkanroute. Die führte über Griechenland, Mazedonien und Serbien. Im Februar 2016 wurde die Balkanroute den Flüchtlingen versperrt, indem man Grenzzäune baute,“ wusste Na.

Und Nuk ergänzte: „Seit September 2021 hat Polen eine Sperrzone an der belarussischen Grenze eingerichtet. Der weißrussiche Diktator Lukaschenko ließ Flüchtlinge aus Asien und Afrika in sein Land einfliegen und an die Grenze bringen. Dort wurden sie nach Polen hinübergetrieben, von den polnischen Grenzwachen aber brutal zurückgedrängt. Pushback nennt man das.“

Und Athabasca sagte resigniert: „Es ist dasselbe Polen, das seit dem Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine seine Grenzen für mehr als 2,6 Millionen ukrainischer Flüchtlinge geöffnet hat.“

„Und genau das verstehen wir nicht!“ empörten sich Nanuk. „Alle Menschen sind doch Homo sapiens, nicht wahr? Alle sind doch miteinander verwandt, haben denselben Genpool! Warum sind die einen willkommen und die anderen nicht?“

„Hm,“ machte Kulle. Athabasca war demonstrativ damit beschäftigt, eine verfilzte Stelle in ihrem Pelz zu bearbeiten. Klar: Es war an ihm zu antworten.

Er räusperte sich. „Es gibt mehrere Gründe. Junge Männer voller Testosteron werden mit weniger Sympathie empfangen als junge Frauen mit Kindern und Haustieren. Und wenn diese jungen Männer dann noch einem sogenannten anderen Kulturkreis angehören, einen anderen Gott anbeten, abweichende Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenleben haben, insbesondere, was die Rolle der Frau angeht, dann ist das Verständnis für sie sehr gering. Das ist das eine.

Das andere hat mit der dehländischen Geschichte zu tun. Im Zweiten Weltkrieg hat die Deutsche Wehrmacht im Juni 1941…“

„Das wissen wir doch, Onkel Kulle! Hast Du vergessen, bei wem wir Geschichtsunterricht hatten?“

„Gut. Dann wisst Ihr auch, dass die deutschen Soldaten in der Ukraine wie in der gesamten Sowjetunion, so weit sie vorgedrungen sind, furchtbare Verbrechen begangen haben. Das darf man nicht ein zweites Mal zulassen, denken viele Menschen, auch wenn diesmal der Aggressor ein anderer ist. So etwas wie schlechtes Gewissen spielt durchaus eine Rolle.

Das dritte Motiv ist Angst. Angst ist ein starkes Motiv. Man will der Ukraine helfen, sich gegen die russische Armee zu verteidigen, weil man befürchtet, das nächste Opfer zu sein, falls das Land überrollt wird. Dazu gehört eben auch, nicht nur Waffen zu liefern, sondern auch die Bevölkerung zu schützen. Wenn die nicht im eigenen Land bleiben kann, dann eben im Ausland.“

„Edle Motive sind das aber nicht gerade, Onkel Kulle!“ stellte Na fest.

„Das habe ich auch nicht behauptet. Man wird lange suchen müssen, bis man bei Sapiens eine Handlung findet, die aus edlen Motiven resultiert.“

„Aber es ist doch schon gut, dass die Menschen einander helfen, auch wenn dabei Egoismus eine Rolle spielt, oder?“ Nuk, die pragmatische, wollte vermitteln.

„Ja, das ist schon gut. Das finde ich auch!“ Athabasca war zur rechten Zeit mit ihrer Fellpflege fertig geworden.

Kulle nickte und widersprach nicht. Bald wird die Ungeduld überhand nehmen, dachte er. Das Gezänk um Geld zwischen Bund, Ländern und Kommunen hat ja schon begonnen. Man wird feststellen, dass die Flüchtlinge kostbaren, weil raren und teuren, Wohnraum blockieren. Die Flüchtlinge werden für die Inflation verantwortlich gemacht werden, auch für das schlechte Bildungsangebot im öffentlichen Schulwesen, das sowieso unter Geld- und vor allem Lehrermangel leidet. Und für den Energiemangel, der zu erwarten ist.

Man wird einen Sündenbock finden, weil die Menschen immer einen finden, wenn sie, was angemessen wäre, die Ursachen für Missstände nicht in eigenen Fehlern suchen wollen.

Aber das sagte er nicht. Na und Nuk hatten fürs erste genug zu denken.

April 2022