„Onkel Manfred, Onkel Manfred!”
Na und Nuk preschten in die Bärenlebener Technikzentrale, natürlich ohne vorher angeklopft zu haben.
„Onkel Manfred, Du musst uns helfen. Du kannst doch alles!“
Manfred war zu geschmeichelt, um zu widersprechen. Deshalb fragte er nur: „Was kann ich für Euch tun, Ihr Süßen?“
Na warf ihrer Schwester einen Blick zu: Was das nun übergriffig oder nicht? Nuk schüttelte nur leicht den Kopf. Jetzt keine Überempfindlichkeiten! Sie wollten schließlich etwas.
„Wir möchten nach Moskau,“ sagte sie. „Und wenn das nicht geht, möchten wir mit Moskau skypen. Oder wenigstens telefonieren.“
„Also fliegen werdet Ihr nicht mehr können, der Flugverkehr ist eingestellt. Ob noch Züge fahren, weiß ich nicht. Das kann ich aber herausfinden. Eine Reise mit Auto oder Bus kommt jedenfalls nicht in Frage, bei all den Truppenbewegungen und Flüchtlingsströmen.“ Erst jetzt kam Manfred auf die Idee, eine grundsätzliche Frage zu stellen: „Was habt Ihr denn mit Moskau zu schaffen?“
„Moskau ist doch die Hauptstadt, oder?“ Na wollte sich vergewissern.
„Moskau ist die Hauptstadt der Russischen Föderation, ja.“
„Dann muss er da doch wohnen, oder?“
„Von den 145 Millionen russischen Bürgern leben 13 Millionen in Moskau. Es ist also logisch, dass er in Moskau wohnt, oder?“
Na und Nuk nickten feierlich. Manchmal hatten sie weder für Logik noch für Ironie ein Gespür.
Manfred versuchte es anders.
„Woher kennt Ihr denn Euren Kontakt in Moskau überhaupt?“
„Aber Onkel Manfred! Seit ein paar Tagen ist der doch dauernd in der Zeitung. Und im Internet. Und auf Social Media!“
Manfred kam ein Verdacht. Sollten sich die Kinder wirklich in den Kopf gesetzt haben, diesen skrupellosen Diktator beeinflussen zu können? Putin von seinen Eroberungsplänen abzubringen? Welch naive Vorstellung!
„Kinder, der Kerl ist gefährlich. Mehr als gefährlich.“
„Das wissen wir, Onkel Manfred,“ sagten die Zwillinge im Chor. „Auf allen Bildern, die wir gesehen haben, fletscht er die Zähne,“ ergänzte Na.
„Er verfügt über fürchterliche Vernichtungswaffen. Er hat diese Waffen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt!“
„Das ist uns bekannt.“
„Und mit dem wollt Ihr reden?“
„Aber Onkel Manfred, er ist doch einer von uns!“
Manfred war fassungslos. „Das meint Ihr nicht im Ernst!“
„Natürlich meinen wir das im Ernst. Wir zeigen ihn Dir mal.“
Na ging zum nächstbesten Computer und tippte.
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Manfred verstand sofort alles. Jetzt bloß nicht lachen, dachte er. Die Zwillinge meinten es gut, und sie waren sehr empfindlich. Aber er würde Athabasca und Kulle darauf hinweisen, dass ihre Zöglinge in Sachen Medienkompetenz erheblichen Nachholbedarf hatten.
„Dieser Bär sieht wirklich sehr gefährlich aus,“ sagte er. „Es gehört viel Mut dazu, sich ihm zu stellen. Ich weiß nicht, ob ich den hätte. – Sagt mal,“ fragte er nach einer Kunstpause, „habt ihr schon mal ein Foto von ihm gesehen? oder einen Film, in dem er auftritt?“
Na sah forschend Nuk an, Nuk schaute auf Na, und beide schüttelten den Kopf.
„Jetzt, wo Du das fragst, fällt es uns auf,“ sagten sie. „Da waren immer nur Zeichnungen.“
„Und auf dieser Zeichnung ist links oben ein Mann mit Zylinder dargestellt. Den kennt Ihr doch, oder?“
„Das ist Uncle Sam,“ erkannte Na.
„Richtig,“ kommentierte Nuk und setzte schnell hinzu: „Aber den gibt es doch gar nicht.“
„Natürlich gibt es den,“ provozierte Manfred. „Wenn es ihn nicht gäbe, wäre er wohl kaum in dieser Karikatur.“
„Aber Onkel Manfred!“ sagte Nanuk vorwurfsvoll. „Den gibt es nicht in echt.“
„Was heißt ‚in echt‘?“
„Uncle Sam,“ erklärte Na feierlich und warf sich dabei in die Brust, „Uncle Sam ist eine Figur, die symbolisch das amerikanische Volk, genauer, die Bevölkerung der USA, darstellen soll. Das solltest Du eigentlich wissen, Onkel Manfred.“
Manfred verkniff sich ein Grinsen. Er hatte die Kinder da, wo er sie haben wollte. „So, so. Uncle Sam ist eine Symbolfigur, und der Bär existiert ‚in echt‘?“
„Ooops.“ Nuk hatte die Lösung gefunden. „Alle drei sind Symbolfiguren. Das erkenne ich jetzt an ihren Attributen. Die alte Dame in dem blauen Top mit den gelben Sternen ist wahrscheinlich Europa. Auf Uncle Sams Zylinder findet sich die Flagge der USA. Und der Bär hat die russische Fahne auf seiner Mütze.“
Manfred nickte Nuk anerkennend zu und suchte Blickkontakt mit Na, aber die wich seinen Augen aus. Sie wusste sehr wohl, dass sie wieder einmal naseweis gewesen war.
„Wir waren ziemlich dumm, nicht wahr, Onkel Manfred?“ fragte Nuk zaghaft.
„Ihr hättet genauer hinsehen sollen, das ist richtig.“
„Und wir hätten erst in Ruhe nachdenken sollen. Onkel Kulle hat uns viele Symbolfiguren für Völker gezeigt: den deutschen Michel, die französische Marianne, John Bull für die Briten und eben Uncle Sam. Aber das sind alles Menschen. Dass auch ein Bär so eine Rolle spielen kann, darauf sind wir nicht gekommen.“
Na hatte ihren Fauxpas schnell vergessen, wie immer. „Onkel Manfred, wie kommt es, dass ausgerechnet die Russen eine Symbolfigur haben, die in den Augen der Menschen ein ganz schreckliches Raubtier ist?“
„Keine Ahnung. Aber Ihr solltet die Frage beim nächsten Höhlenabend in den Raum stellen. Das wird bestimmt eine interessante Diskussion.“
1.3.2022