Na und Nuk, die Eisbärenzwillinge, hatten sich gut überlegt, wo und wann sie Athabasca und Kulle am besten abpassten, ohne dass den Erwachsenen eine Ausrede einfiel, mit der sie sie schnell abwimmeln konnten. Die sportliche Bärin war nach einem langen Trainingslauf am Morgen in den Dorfteich gesprungen und gerade wieder daraus aufgetaucht. Sie schüttelte sich das Fell trocken. Kulle kehrte aus der Bibliothek zurück und musste erst einmal den deprimierenden Aufsatz von Jem Bendell über die Klimakatastrophe verdauen, den er gerade gelesen hatte. Er ließ sich nur zu gerne davon ablenken.
„Tante Atti, Onkel Kulle, wir möchten Euch unsere erste wissenschaftliche Arbeit zeigen!“ verkündete Na stolz.
„Vielleicht sagen wir besser: Unseren ersten Versuch einer wissenschaftlichen Arbeit.“ Nuk war wie immer vorsichtiger als ihre Schwester.
Athabasca und Kulle machten große Augen. Davon hatten sie bisher nichts gewusst.
„Auf welchem Gebiet habt Ihr denn geforscht?“ erkundigte sich Kulle schließlich.
„Wir interessieren uns für Anthropologie,“ antworteten die Zwillinge im Chor.
Kulle setzte zu der Erklärung an, dass es viel interessantere und sehr viel weniger Schwermut verursachende Gegenstände gebe, aber ihm wurde noch rechtzeitig klar, dass er selbst sich mit nichts anderem beschäftigte. Also hielt er seinen Mund.
„Das ist ein weites Feld,“ kommentierte er stattdessen unverbindlich. „Worum geht es denn in Eurer Arbeit?“
„Das lest Ihr am besten selbst. Wir haben für jeden von Euch ein Exemplar ausgedruckt.“
Sie drückten den beiden Erwachsenen jeweils eine Mappe in die Hand und sausten davon.
Athabasca warf einen Blick auf den Titel. „‚Genozid‘“ sagte sie angewidert. „Kulle, das fällt in Dein Ressort. Damit will ich nichts zu tun haben.“
Ehe er sich’s versah, stand Kulle mit zwei Mappen allein da. Athabasca war ebenso schnell verschwunden wie die Eisbärenzwillinge. Er beschloss, sich gleich an die Lektüre zu machen. Völkermord war immer noch besser als der Zusammenbruch der gesamten Zivilisation.
Genozid
von Na und Nuk
Betrachten wir folgendes Ereignis:
Eine Gruppe Hominiden lebt friedlich zusammen, bis sie sich räumlich trennt und verschiedene benachbarte Territorien bewohnt. Es dauert nicht lange, bis Feindseligkeiten ausbrechen. Innerhalb von vier Jahren werden alle Männer der einen Gruppe getötet, ebenso ein Teil der Frauen, die anderen Frauen werden Beute der Männer der siegreichen Gruppe. Die Sieger okkupieren das Territorium der Besiegten.
Dieses Geschehen erfüllt Kriterien, die die Vereinten Nationen 1948 als Crime of Genocide, als Völkermord, definiert haben. Nach Artikel II der UN-Konvention versteht man darunter Handlungen, die an einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe verübt werden, nämlich
- die Tötung von Mitgliedern der Gruppe,
- die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe,
- die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
- die Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind,
- die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Das Besondere an unserem Beispiel ist, dass die aggressiven Hominiden nicht der Gattung Homo angehörten, sondern der Gattung Pan troglodytes. Sie waren Schimpansen. Der „Gombe Chimpanzee War“ von 1974 bis 1978 wurde von Jane Goodall beobachtet.
Ihr Verhalten darf man den Schimpansen aber nicht vorwerfen, denn sie konnten schließlich nicht lesen, kannten also die Konvention der Vereinten Nationen nicht.. Das ist nicht auf einen Mangel an Intelligenz zurückzuführen, sondern auf einen Mangel an Schulen in Tansania. Auch Goodall hat, wie ihrem Werk ‚The Chimpanzees of Gombe. Patterns of Behaviour‘ zu entnehmen ist, die Menschenaffen nicht unterrichtet.
Wir wollen in dieser Arbeit nicht plump die These vertreten, dass Aggression und Krieg die entscheidenden Triebkräfte der menschlichen Entwicklung waren und sind. Wir sind keine Psychohistoriker, und wenn wir Asimov richtig gelesen haben, gibt es nur wenige Vertreter dieser Wissenschaft. Allerdings geben die Tatsachen, dass das Töten von Artgenossen den engsten rezenten genetischen Verwandten von Homo sapiens sapiens (im folgenden: Hss) leicht von der Hand zu gehen scheint, dass Hss selbst die Lösung von Konflikten bevorzugt mit militärischen Mitteln zu erreichen sucht und dass auch Völkermord, obwohl offiziell geächtet und als Verbrechen eingestuft, immer noch als probates Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele benutzt wird, zu denken.
Zu denken gibt auch, dass in sogenannten heiligen Büchern wie dem Alten Testament der Bibel, das von Juden wie von Christen als Gottes Wort angesehen wird, die Vernichtung fremder Völker durch das – angeblich – auserwählte Volk Gottes nicht nur gerechtfertigt wird, sondern sogar als dem Willen Gottes entsprechend dargestellt wird.
Dazu ein Beispiel.
Als das Volk Israel nach seiner Knechtschaft in Ägypten von Moses zurück ins gelobte Land geführt wurde, war Kanaan keineswegs menschenleer. Es musste Platz geschaffen werden, zum Beispiel durch den Krieg gegen die Midianiter.
Im vierten Buch Mose, Kapitel 31, Verse 1 – 18, ist zu lesen:
Der HERR sprach zu Mose: Nimm für die Israeliten Rache an den Midianitern!… Da redete Mose zum Volk und sagte: Rüstet einen Teil eurer Männer für das Heer! Sie sollen über Midian herfallen, um die Rache des HERRN an Midian zu vollziehen. Aus jedem Stamm Israels sollt ihr tausend Mann zum Heer abstellen…
Sie zogen gegen Midian zu Feld, wie der HERR es Mose geboten hatte, und brachten alle männlichen Personen um. Neben den anderen, die sie erschlugen, brachten sie auch die Könige von Midian um…Die Frauen von Midian und deren kleine Kinder nahmen die Israeliten als Gefangene mit. All ihr Vieh und ihre Güter und ihre Habe plünderten sie. Alle Städte im Siedlungsgebiet der Midianiter und ihre Zeltdörfer brannten sie nieder. Alle Menschen und das ganze Vieh, das sie erbeutet und geraubt hatten, nahmen sie mit.
Sie brachten die Gefangenen, das Geraubte und die Beute zu Mose, zum Priester Eleasar und zur Gemeinde der Israeliten in das Lager in den Steppen von Moab am Jordan bei Jericho. Als Mose, der Priester Eleasar und alle Anführer der Gemeinde ihnen aus dem Lager heraus entgegengingen, geriet Mose in Zorn über die Befehlshaber des Heeres…
Und Mose sagte zu ihnen: Warum habt ihr alle Frauen am Leben gelassen? Siehe, sie haben… den Israeliten Anlass gegeben, dem HERRN untreu zu werden, sodass die Plage über die Gemeinde des HERRN kam. Nun bringt alle kleinen Knaben um und tötet ebenso alle Frauen, die schon mit einem Mann geschlafen haben! Aber alle Mädchen, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben, lasst für euch am Leben!
Bibel
Wir sind begeistert: Die Israeliten haben es bereits 1200 Jahre vor unserer Zeitrechnung geschafft, alle, aber auch wirklich alle Kriterien für den Völkermord zu erfüllen!
Danach geht es immer so weiter. Als Beleg sei nur der dritte Punische Krieg genannt, der 146 vuZ mit der Zerstörung Karthagos und der Versklavung seiner überlebenden Bewohner endete. Cato der Ältere ist eindeutig daran schuld, hat er doch unermüdlich am Schluss aller seiner Reden im Senat wiederholt: ‚Ceterum censeo Carthaginem esse delendam!‘
Eine große Rolle beim Vernichten von Völkern spielt der Kolonialismus. In den Amerikas zum Beispiel waren die indigenen Einwohner den europäischen Kolonisten im Weg; sie wurden zu guten, also toten Indianern gemacht oder in Reservationen abgedrängt, die ihnen keine Lebensgrundlage liefern konnten. Wo sie dennoch überleben konnten, rächen sie sich heute in den USA mit dem Betrieb von Spielcasinos, in denen sie dem weißen Mann seine Dollars aus der Tasche ziehen.
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind Genozide gut dokumentiert. Wir verweisen hier nur auf den Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904 – 1908), der ganz gewiss stattgefunden hat, hat doch die deutsche Bundesregierung bestätigt, dass es ihn gab. Der Völkermord an den Armeniern ab 1915 auf Veranlassung der türkischen Regierung ist immer noch umstritten, denn der amtierende türkische Präsident Erdogan leugnet ihn, und der muss es schließlich wissen. Zum Holocaust von 1941 bis 1945 sagen wir lieber nichts. Jeder, der behauptet, er sei nicht das fürchterlichste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit gewesen, gilt als Nationalsozialist, mindestens als Nationalist, und das sind wir gewiss nicht, gibt es doch keine Eisbärennation. Also beschränken wir uns auf die Aussage: Es gab ihn.
Viel schlimmer sind aber die Völkermorde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, denn da gab es die oben erwähnte UN-Konvention bereits. Die Mörder mussten also wissen, dass sie ein Verbrechen begingen, während das in früheren Zeiten nicht der Fall war. Das gilt zum Beispiel für die Massaker in Ruanda und Burundi 1965, 1972 und 1994, in denen erst Tutsi Hutu ermordeten und danach umgekehrt. Die Tutsi haben also genug Hutu überleben lassen, sonst hätten sie anschließend nicht von ihnen ermordet werden können.
Wir meinen allerdings, dass die Menschen die moralische und juristische Verurteilung des Völkermords nicht wirklich ernst meinen. Täten sie es, würden sie die Finger davon lassen, gezielt andere Menschengruppen zu eliminieren, was sie erkennbar nicht machen. Täten sie es, würden sie ihre Kinder im Sportunterricht in der Schule sicher nicht den Vernichtungskrieg üben lassen: Das sogenannte Spiel „Völkerball“ endet mit der vollständigen Vernichtung einer Mannschaft.
Kulle klappte seine Mappe zu. Die Zwillinge mussten noch viel lernen. Aber er war dennoch zufrieden. Die Kernaussage gefiel ihm.
November 2019