In ihrer neuen Heimat waren die Bären mindestens genauso neugierig wie in Dehland, und am neugierigsten sind Bären auf neue Zeitgenossen. Deshalb war Bärdel freudig erregt, als er auf einem seiner Streifzüge jemandem begegnete, den er noch nicht kannte. Vorher war er eine Bergwiese hinuntergetrabt, hatte ein wenig herumgetrödelt, den Kolibris beim Nektarsaugen zugesehen und ein paar Serviceberries genascht. Nach seinen ersten Beobachtungen handelte es sich bei dem Fremdling vermutlich um ein Säugetier. Es war deutlich kleiner als ein Bär und bewegte sich auf vier Extremitäten voran. Sein Fell war dunkelgrau bis weiß, und auffällig war der breite, lange und buschige Schwanz. Als Bärdel sich dem Fremden näherte, hob der den Schwanz lotrecht in die Höhe und wandte ihm das Hinterteil zu, wobei er über die Schulter schaute und jede Bewegung Bärdels aufmerksam verfolgte.
Das war ein Begrüßungsritual, dem Bärdel bisher noch nie begegnet war. Recht elegant sah es aus, fand er, und deshalb versuchte er seinerseits, seine Annäherung so ästhetisch wie möglich zu gestalten. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, verbeugte sich, setzte, wie es Vorschrift war, immer abwechselnd den rechten und den linken Fuß drei beziehungsweise viermal nach hinten und drehte sich anschließend einmal um sich selbst. Diese komplizierte Bewegung war seit undenklichen Zeiten das Bärenzeichen für: „Ich komme als Freund!“ Selbstverständlich wußte Bärdel, daß eben jenes friedenbringende harmonische Schwingen seine Vorfahren in Europa jahrhundertelang zu Tanzbären degradiert hatte, weil die Menschen zu dumm waren, um speziell die Begrüßungsgeste der Bären und allgemein Bären überhaupt zu verstehen. Aber das bereitete ihm jetzt keine Probleme. Hier, in Amerika, dachte er, würde er schon richtig verstanden werden.
„Guten Tag!“ sagte er. „Ich bin Bärdel. Nett, dich zu treffen!“
„SSSSSSS“, sagte der Fremde.
Bärdel dachte nach. Er hatte sich nach Kräften bemüht, so schnell wie möglich die Sprache des fremden Landes zu lernen, und inzwischen hatte er normalerweise auch keine Probleme mehr mit der Verständigung. Jetzt aber verstand er gar nichts. Ramses hatte ihm erzählt, daß in den USA viele Dia-, Sozio- und sonstige -Lekte gesprochen werden, die zum Teil wie fremde Sprachen erscheinen. Bärdel nahm an, daß er es mit einer solchen Subsprache zu tun zu hatte.
„SSS – den Namen habe ich noch nie gehört. Aber ich bin auch neu hier.“ Er überlegte, ob er nochmals sagen sollte, daß er Bärdel war, aber er beschloß, darauf zu verzichten. Die einmalige Erwähnung sollte eigentlich für intelligente Wesen ausreichen.
„ISSSOFFF!“
Jetzt,als Bärdel genauer hinhörte, unterschied er zwei Vokale und zwei Konsonanten, aber er brauchte geraume Zeit, um einen Sinn in die Aussage zu bringen. Endlich aber wurde ihm klar: Der graue Fremde wolte, daß er verschwand.
Bärdel setzte sich auf seinen dicken Hintern und dachte weiter nach. Der Fremde stand unverändert, den Schwanz hoch erhoben. Beide sahen einander erwartungsvoll an.
„Warum möchtest du, daß ich weggehe? Bevor du überhaupt weißt, wer ich bin?“ fragte Bärdel schließlich. „Ganz abgesehen davon, daß ich auch nicht weiß, wer du bist.“
„Ssssicherheit!“ zischte der Fremde.
Jetzt hatte Bärdel sofort verstanden. „Damit hast du zweifellos recht“, antwortete er und machte nach diesem kurzen Satz eine effektvolle Pause. „Aber auch wieder nicht!“ fügte er danach hinzu, als sei diese widersprüchliche Aussage das Selbstverständlichste der Welt.
„Ssssoldasssheissssen?“
„Wenn du alle wegschickst, die zu dir kommen, kann dir niemand gefährlich werden. Aber wenn du niemandem gestattest, dir nahe zu kommen, dann kann dir auch keiner helfen, wenn du Hilfe brauchst. Dann bist du nicht sicher.“
„Ssssstimmt.“
Da der Graue einsilbig blieb, kam Bärdel auf die Idee, ihm eine Geschichte zu erzählen. Das gehört, wie wir wissen, ohnehin zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.
„Kennst du Athabasca? Nein? Athabasca ist eine Bärin, die schon lange hier in den LaSals lebt, während ich erst vor kurzem angekommen bin. Aber das kann ich ein andermal erzählen. Von Athabasca kenne ich eine Story der Ute-Indianer. Sie heißt Kröte und Frosch‘ und ist mir auch deshalb besonders sympathisch, weil eine Fröschin darin vorkommt. Aber auch das sollte ich besser später mal erklären. Willst du die Geschichte hören?“
Der Fremde ließ weder eine zustimmende noch eine ablehnende Reaktion erkennen, und so fing Bärdel einfach an.
„Die Kröte hatte Kinder. Die Fröschin kam, um sie zu besuchen. Sie sagte: ‘Ihr werdet ertrinken. Das Wasser wird steigen und euch ersäufen.‘ Kröte dachte darüber nach und sagte dann: ‘Wir ziehen besser um.‘ Sie wanderten hoch auf den Hügel. Es begann zu regnen, es regnete und regnete. Das Wasser stieg hoch. Oben auf dem Hügel gab es einen Teich. Fröschin saß an seinem Ufer. Die kleinen Kröten sagten zu ihr: ‘Wenn das Wasser zurückgeht, wirst du austrocknen und deine Beine in die Luft strecken.‘
Die Kröte ging fort. Als sie nach einiger Zeit zurückkam, lag die Fröschin leblos da, genau so, wie die Kinder es vorausgesagt hatten. Kröte ging zu ihr und spuckte ihr auf die Brust, was ihr Erfischung brachte. Sie öffnete die Augen und sagte: ‘Ich habe geschlafen.‘ So wurde sie ins Leben zurückgebracht.“
Bärdel war fertig und schaute den Unbekannten erwartungsvoll an.
„Gesssschichten erzzzzählen kann ich auch!“, zischte der, und er trat ohne Zögern den Beweis dafür an.
„Eine Gessssellschaft Ssssstachelsssschweine drängte sssich an einem kalten Wintertage recht nahe zussssammen, um durch die gegenssseitige Wärme sssich vor dem Erfrieren zzzu ssschützzzen. Jedoch bald empfanden ssssie die gegenssseitigen Ssstacheln; welchesss sssie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun dasss Bedürfnisss der Erwärmung sssie wieder näher zzzusssammenbrachte, wiederholte sssich jenesss zzzweite Übel, so daßßß sssie zzzwissschen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bisss sssie eine mäßßßige Entfernung voneinander herausssgefunden hatten, in der sssie esss am besssten aussshalten konnten. -“
Die zahllosen Zischlaute bereiteten Bärdel erhebliche Mühe, aber er verstand die Geschichte wohl, und darüber hinaus meinte er, sie schon einmal gehört zu haben. Aber wo nur?
„Na also!“ rief er, „das bestätigt mich doch, oder? Auch Stachelschweine brauchen Wärme und Gesellschaft, sie haben nur Probleme, diese Bedürfnisse zu befriedigen!“
Aber der Freme winkte nur herablassend ab und sprach weiter.
„Ssso treibt dasss Bedürfnisss der Gesssellschaft, ausss der Leere und Monotonie desss eignen Innnern entsssprungen, die Menssschen – und anssscheinend auch die Bären, Frösssche und Kröten – zzzueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenssssschaften und unerträglichen Fehler ssstoßßßen sssie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sssie endlich herausssfinden und bei welcher ein Beisssammensssein bessstehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sssitte. Dem, der sssich nicht in diessser Entfernung hält, ruft man in England zzzu: Keep your dissstanccce. – Vermöge derssselben wird zzzwar dasss Bedürfnisss gegenssseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Ssstich der Ssstacheln nicht empfunden. -“
„Hm“, ich könnte ja jetzt beleidigt sein, weil du mir innere Leere unterstellst, aber immerhin gibst du doch zu, daß wir alle Gesellschaft brauchen und…“
Der Graue unterbrach ihn mit einer gebieterischen Bewegung seines unverändert hoch erhobenen Schwanzes.
“ Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber ausss der Gesssellssschaft weg, um keine Bessschwerde zu geben noch zzzu empfangen.“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, gab er seine drohende Haltung auf und verschwand blitzschnell im nächsten Graben.
Bärdel schüttelte den Kopf. Das war aber ein merkwürdiger Einzelgänger! Nach dem anstrengenden Gespräch mit ihm hatte er das dringende Bedürfnis, nach Hause zu gehen und Tumu und allen anderen davon zu erzählen. Am schnellsten aber wollte er mit Kulle sprechen, denn ihm selbst fiel einfach nicht ein, wessen Gedanken der Fremde gerade zitiert hatte. Sein gebildeter Freund würde das selbstverständlich wissen. Und sie beide würden sich lange über Nähe und Distanz von Bären unterhalten können – ganz ohne Beschwerde.
Er erhob sich voller Vorfreude und trabte auf den Berg zu, in dem sich ihre Höhle befand.