Menschenliebe


Außergewöhnliches Beispiel von Menschenliebe bei wilden Tieren
 

Erinnert ihr euch an Bärenleben? Richtig, das ist jenes kleine dehländische Dorf…

Einige Zeit nach dem Atomabenteuer hatten die Bewohner von Bärenleben wieder ein Problem. Diesmal litten sie nicht an Nahrungsüberfluß, sondern an Mangel. Wahrscheinlich denkt ihr jetzt, die Beeren wären jetzt kleiner gewachsen als normal, aber das ist falsch. Alle Früchte hatten die Größe, die sie haben sollten. Eigentlich gab es auch genug von ihnen. Nur: Sie wurden abgeerntet, bevor die Bären sich über sie hermachen konnten. Und nicht nur das: Auch das trockene Holz, unter dem im Herbst die Pilze so prächtig gediehen, verschwand wie von Geisterhand. Von den wenigen Pilzen, die trotzdem sprossen, ganz zu schweigen.

Bärdels Sohn – Tumu und er hatten ihn Manfred genannt – war inzwischen zu einem kräftigen Jungbären herangewachsen. So ein geheimnisvoller Vorgang – das war etwas für ihn! Gut im Unterholz verborgen, legte er sich auf die Lauer. Er brauchte nicht lange zu warten. Schon kurz nach Einbruch der Dämmerung näherten sich graue Schatten und begannen ihre Ernte. Sie sammelten alles, was der Wald zu bieten hatte, steckten die Beeren in mitgebrachte Beutel, luden das Holz auf kleine zweirädrige Wägelchen, ja, sogar Gras schnitten sie ab und stopften es in grobe Jutesäcke.

Eigentlich hatte Manfred vorgehabt, die Diebe gehörig zu erschrecken, so daß sie nicht den Mut haben würden, jemals wiederzukommen. Trotz des schlechten Lichtes erkannte er jetzt jedoch, daß die Störenfriede Menschen waren. Menschen – so dicht bei Bärenleben! Die durfte er nicht auf sich aufmerksam machen – er hätte damit alle verraten. Behutsam, ohnen einen Laut, schlich Manfred zurück.

Natürlich war es längst ordentliche Bären-Schlafenszeit, aber trotzdem weckte Manfred das gesamte Dorf. Er fand, die Angelegenheit sei dringlich genug. Und richtig: Nach dem ersten Gebrumm und Gemurr über die ungehörige Störung kam niemand auf den Gedanken, ihn zu schelten. Aufgeregt redeten alle durcheinander: “Menschen sollen auf einmal Beeren sammeln?“

„Und Holz?“

„Vielleicht wollen sie ein Haus bauen?“

„Ein Haus aus Abfallholz – das glaubst Du doch selbst nicht!“

„Kann es sein, daß sie die gesunde Ernährung entdeckt haben?“

„Für gesunde Kost gehen sie ins Reformhaus, nicht in den Wald!“

Sie kamen nicht recht voran. Bald breitete sich ratloses Schweigen aus.

Schließlich sagte eine Bärin: “Damals, als die Beeren zu groß waren und wir so viel Unglück hatten, sind die Männer Bücher holen gegangen und haben nachgelesen, woran alles lag.“

„Das ist eine hervorragende Idee,“ meinte Bärdel. „Aber vielleicht kann es diesmal weniger gefährlich werden. Ich glaube nicht, daß wir wie beim letzten Mal stehlen müssen. Wenn sich etwas bei den Menschen verändert hat, dann steht es bestimmt in den Zeitungen.“

„Ach, und die bekommst Du umsonst?“ wollte ihn sein Nachbar verspotten.

„In der Tat,“ brummte Bärdel gemütlich und grinste. „In jeder öffentlichen Menschenbibliothek. Darf ich gehen?“

Er durfte.

Bärenkenner wissen, daß Bären sich ohne Schwierigkeiten als Menschen tarnen können. Unerkannt wanderte er also in die nächste Kreisstadt und machte es sich im Lesesaal der Bibliothek bequem. Zeitungen gab es hier wirklich zur Genüge. „WILD“ schob er schnell wieder in den Ständer zurück: Daß der Kanzler am anderen Ende der Welt Milliardenaufträge für die heimische Industrie zu ergattern versuchte und daß die Gewerkschaften unverschämte Lohnforderungen stellten, hatte mit seinem Problem nichts zu tun. Oder doch? Jedenfalls versuchte er es erst einmal mit anderen Blättern und fand mehr:

Arbeitslosenzahl auf Rekordhöhe
Zahl der Sozialhilfeempfänger innerhalb von zehn Jahren vervierfacht

Minister kündigt Kürzung des Arbeitslosengeldes an

Wirtschaftswachstum geht am Arbeitsmarkt vorbei.
Das war es also! Bevor er wieder nach Hause marschierte, schlug er im Lexikon unter „Sozialhilfe“ und „Arbeitslosengeld“ nach. Vergnügt pfiff er auf dem Heimweg vor sich hin.

In Bärenleben wurde er gespannt erwartet.

„Was ist denn nun los?“ Alle bedrängten ihn.

„Kein Grund zur Panik!“ schmunzelte Bärdel. „Ich bringe gute Nachrichten. Die Menschen haben keine Arbeit mehr, und also auch kein Geld. Es ist Schluß mit dem Konsumterror und der Technik – das können sie sich nicht mehr leisten. Sie kehren zurück zur Natur – bald werden sie wieder leben wie wir, als Jäger und Sammler!“

Nach dem ersten überraschten Schweigen öffnete Manfred gerade den Mund, um einen Jubelschrei auszustoßen, da sagte Tumu ganz leise:

„Sammeln tun sie ja jetzt schon – unsere Beeren, unser Holz, unsere Pilze. Und wen werden sie morgen jagen? Uns!“

Während der absoluten Stille, die danach eintrat, wurde jedem Bewohner von Bärenleben klar, daß das Dorf wieder mal ein Problem hatte. Ein größeres, als bisher angenommen. Ein sehr großes.

An den geruhsamen täglichen Bärenrhythmus oder gar an Schlaf war nicht mehr zu denken. Alle Dorfbewohner beratschlagten in Permanenz.

Schon bald war ihnen klar, daß sie, um die Menschen von sich abzulenken, gerade das brauchten, was sie überhaupt nicht hatten: Geld. Pläne der Jungbären, Blüten zu drucken, wurden schnell verworfen: Solche Fälschungen flogen immer auf, und dann war Bärenleben erst recht preisgegeben. Aber was sonst tun? Sie diskutierten hin und her, kamen aber zu keinem Ergebnis.

Nach einigen Tagen, als alle schon vor Schlaflosigkeit rotgeränderte Augen hatten, sagte Bärdel mit Galgenhumor:

„Ich habe mal von Tieren gehört, denen es sehr schlecht ging. Ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn. Sie sagten sich: Laßt uns in die Welt ziehen; etwas Besseres als den Tod werden wir allemal finden. Sie fanden es tatsächlich – sie überwältigten eine Räuberbande und bedienten sich von deren Beute. Jetzt bitte ich euch: Laßt mich in die Welt ziehen! Ich will versuchen, etwas Besseres als den Tod für Bärenleben zu finden.“

Tumu weinte zwar bitterlich, aber natürlich ließen sie ihn gehen – sie wußten nicht, was sie sonst machen sollten.

Bärdel wanderte durch Dehland. Überall das gleiche Bild – Menschen ohne Arbeit. Untätig, mit der Bierdose in der Hand, oder auf Nahrungsmittelsuche. Einmal roch er an den Resten des Inhalts einer Konservendose, die ein Mensch gerade leergegessen und danach weggeworfen hatte. Ihm wurde übel. „Kittekat“ sagte das Etikett.

Er probierte verschiedene Türen aus. Beim Sozialamt kam er gar nicht dazu, das Elend der Menschen zu schildern – man warf ihn nach den ersten Sätzen hinaus. Pfarrer hörten ihm in der Regel geduldig zu, seufzten dann , wiesen auf Kollekten für caritative Zwecke hin und murmelten etwas von der schwierigen Finanzlage der Kirchen in der Gegenwart. Bürgermeister bekamen nach der Erwähnung des Wortes „Sozialhilfe“ hektische rote Flecken im Gesicht. Minister erläuterten ihm ausführlich das Budgetdefizit, und der Oppositionsführer sprach von der Notwendigkeit einer langfristigen Konsolidierung. Gewerkschafter hörten ihn geduldig an, wiesen dann auf den Mitgliederschwund hin und schoben ihm ein Beitrittsformular über den Tisch.

Erst zum Schluß traute er sich zum Arbeitgeberverband. Die Arbeitgeber waren an allem schuld, sagte ihm sein Gefühl. Warum also sollten gerade sie helfen?

Es war gar nicht so leicht, dort zu einem wichtigen Menschen zu gelangen. Da war der Pförtner, der ihn nicht hineinlassen wollte. Die Dame am Empfang in der imposanten Eingangshalle. Und schließlich die Sekretärin.

Alle hatten von ihm wissen wollen, „in welcher Angelegenheit“ er „vorstellig werde“. Er hatte etwas Undeutliches gemurmelt und dabei immer nur das Wort „Schutz“ deutlich ausgesprochen. Verblüffenderweise reichte das – er wurde überall durchgeschleust.

Endlich saß er einem Herrn gegenüber. Der Herr trug einen dezenten Anzug mit einer noch dezenteren Krawatte und einem ganz dezentem Hemd. Viel imposanter als der Herr war für Bärdel aber der Schreibtisch, der sich zwischen ihnen befand. Er war riesig groß und fast leer – fast. Auf ihm befanden sich lediglich eine lederne Schreibtischgarnitur, ein silbergerahmtes Foto und ein kleiner Plüschteddy. Der war Bärdel sofort sympathisch. Unwillkürlich nahm sein Äußeres ein wenig mehr von seiner Bärenidentität an.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte der dezente Herr.

„Ich bin vom Tierschutzverband,“ sagte Bärdel, ohne lange nachzudenken.

„Fast habe ich mir das gedacht!“ lächelte der Herr. „Verzeihen Sie, aber Sie sehen ja selbst beinahe aus wie ein Bär. Sicherlich geht es Ihnen um den Schutz bedrohter Tierarten? Wir von der chemischen Industrie sind jederzeit bereit, hierzu unseren Beitrag zu leisten.“

In Bärdels Kopf wirbelte es. Bedrohte Tierarten? Bären waren bedroht! Nur kein Hinweis auf Bärenleben! Chemische Industrie? Was machen die? Öl, Chlorchemie, Medikamente, Kosmetik…das war`s!

„Nein,“ sagte er und versuchte, ebenso dezent zu lächeln wie sein Gegenüber, „wir starten gerade eine Kampagne gegen den Mißbrauch von Labortieren. Sie wissen ja…“

„Natürlich weiß ich,“ sagte der dezente Herr und öffnete eine Schreibtischschublade. Ein Scheckbuch lag auf einmal in seiner Hand. „Wieviel?“

„Das liegt bei Ihnen,“ sagte Bärdel.

Der Herr verwechselte Bärdels Offenheit mit raffiniertem Verhandlungsgeschick.

„Gut.“ sagte er. „Ich mache Ihnen folgendes Angebot. Ich schreibe Ihnen einen Scheck über zehn Millionen DM. Der Verband der chemischen Industrie startet in allen überregionalen Tageszeitungen einen Anzeigenkampagne, die zu Spenden für bedrohte Tierarten aufruft. Sie stellen sich als Fotomodell für diese Kampagne zur Verfügung. Das kostet Sie nur einen Fototermin, den wir sofort arrangieren können. Sie verzichten im Gegenzug auf jegliche Angriffe gegen die chemische Industrie.“

„Gemacht!“ sagte Bärdel.

„Dann geben Sie mir Ihre Kontonummer, damit die eingehenden Gelder transferiert werden können.“

„Das mache ich morgen,“ stammelte Bärdel. „Ich rufe Sie an.“

Ungeduldig ertrug Bärdel es, daß zwei Fotografen um ihn herumwieselten und ihn aus allen nur denkbaren Perspektiven aufnahmen. Er mußte nämlich dringend nach Hause – also, eigentlich nicht nach Hause, aber in das Menschendorf, das am nächsten an Bärenleben lag. Dort gab es eine Bank. Dort mußte er ein Konto einrichten. Mindesteinlage: fünf Mark. In den nächsten Tagen würden Millionen auf dieses Konto fließen, aber ohne diese fünf Mark würde es kein Konto geben.

Im Vorzimmer erzählte er der Sekretärin etwas von Rosen, die er noch besorgen müßte, und einem Blumenladen, der keine Kreditkarten akzeptierte. Er bekam von ihr 50 DM und bat sie, diesen Betrag von seinem Guthaben abzuziehen. Morgen würde er eins haben.

So erschloß Bärdel eine Geldquelle. Nicht nur die versprochenen zehn Millionen DM der chemischen Industrie wurden auf das von ihm eingerichtete Konto eingezahlt, dazu kamen unzählige Spenden. Nicht immer wurden die Spenden einfach per Überweisung getätigt, oft erhielten die Bärenlebener Schecks, denen lange Briefe beigelegt waren. Daraus ließ sich ersehen, daß viele Menschen vor Mitleid mit den armen Labortieren überquollen und ihre letzten Pfennige opferten, um ihnen zu helfen.

Die Bären schüttelten ihre großen Köpfe. Sie verstanden das nicht. Mußte man nicht zuerst dem eigenen Volk helfen? Gab es nicht genug arme Menschen?

Aber letztlich konnte ihnen das egal sein. Sie halfen sich selbst. Den Armen, die Beeren lasen, Holz abfuhren und Pilze sammelten, gaben sie von ihrem Geldreichtum. So konnten die Menschen wieder einkaufen gehen. Und die Bären hatten wieder genug zu essen.

Sie plünderten ihr Spendenkonto bis auf die letzte Mark. Die aber blieb stehen. Für alle Fälle…