Die Bären, der Frosch und das Schwein hatten sich für die erste Nacht gemütlich eingerichtet, und die meisten hatten auch gut geschlafen. Einige allerdings, vor allem die jungen, zeigten am Morgen leicht rot geränderte Augen. Sie waren nachts neugierig aus der Höhle nach draußen gewandert und hatten sich an dem fremden Sternenhimmel, der so ungewohnt klar war und an dem der Halbmond auf dem Rücken lag, lange nicht sattsehen können. Aber auch sie krochen früh aus den Schlafecken – der erste Tag lag vor ihnen, und sie wollten keine Sekunde von ihm versäumen.
Wortlos häuften die Bärenfrauen kleine Beerenhügel in der Mitte der Höhle auf, aber sie wurden unangenehm laut, als einige Jungmänner sich auf die Nahrung stürzen wollten, als sei deren Bereitstellung eine Selbstverständlichkeit.
„Stop!“ sagte Dina. „Zuerst mal heißt das: ‚Danke!‘ Und zweitens möchte ich, daß wir jetzt alle zivilisiert gemeinsam frühstücken und sich nicht jeder heimlich irgendwohin verkrümelt und plötzlich verschwunden ist!“
„Danke!“ sagte Bärdel beschämt, und auch viele andere murmelten ähnliches oder nickten mit gesenkten Blicken. Sie schämten sich, weil die Frauen für sie alle gearbeitet hatten und weil Dina genau ihre Gedanken gelesen hatte. „Danke!“ wiederholte Bärdel. „Wo habt Ihr denn in der fremden Umgebung so schnell die vielen Beeren finden können?“
„Ramses hat sie uns gezeigt. Sie wachsen massenhaft gleich hier hinter der Höhle. Serviceberries hat er sie genannt. Er sagt, es gebe viel davon, und alle Tiere liebten sie. Das Zeug schmeckt ziemlich sauer, aber das spricht für seinen hohen Gehalt an Vitamin C. Also: Laßt es euch schmecken!“
„Hmhm“, machte Bärdel, nachdem er die erste Handvoll gegessen hatte und sich bemühte, nicht das Gesicht zu verziehen. Die Beeren war nicht nur ziemlich sauer, sie waren sehr sauer. „Interessant! Ein völlig neuer Geschmack! Wir sollten uns also auch bei Ramses für die leckere Mahlzeit bedanken.“
Die Mienen der meisten Bären drückten aus, daß sie die Bewertung „lecker“ keineswegs für zutreffend hielten, aber niemand widersprach. Stattdessen sahen sich alle suchend um – wo war Ramses?
„Ramses ist draußen“, sagte Tumu. „Er hat uns erklärt, daß er es als Frosch nicht gewohnt ist, sich in Höhlen aufzuhalten. Aber wir sollen ihn jederzeit rufen, wenn wir ihn brauchen.“ Sie behielt für sich, daß die Körperausdünstungen der Bären und des Schweins für den kleinen Frosch offenbar alles andere als angenehm waren.
Bärdel tappte zum Eingang und bat Ramses hereinzukommen. „Danke, daß du uns zu einem so … gesunden Frühstück verholfen hast. Wir hoffen, daß wir bald selbständiger werden und deine Hilfe nicht mehr ständig beanspruchen müssen. Den heutigen Tag werden wir für erste Erkundungen der näheren Umgebung benutzen. Gibt es etwas, worauf wir achten sollten?“
Hinter der Stirn des kleinen Frosches arbeitete es sichtbar. „Bewegt euch nicht so schnell, wie ihr möchtet“, sagte er schließlich. „Es wird ein paar Tage dauern, bis ihr euch an die dünne Luft hier oben gewöhnt habt. Trinkt viel – die Luftfeuchtigkeit ist hier viel geringer als in Dehland. Und sonst? Erschreckt keine Kuh, erschreckt vor keinem Cougar und hütet euch vor den LDS. Das war’s eigentlich schon.“
„Was ist ein Cougar?“
„Ich nehme sowieso keine Drogen.“
Was sind LDS?“
„Ich kenne nur LSD!“
Fragen und Kommentare purzelten durcheinander.
Ramses wedelte mit seinen Froscharmen, und Ruhe kehrte ein. „Entschuldigung! Ein Cougar ist ein Berglöwe, korrekter ein Puma. Ein paar von ihnen gibt es her oben. Wenn man sie stört, werden sie meist unangenehm. Sie schlafen tagsüber hoch oben in den Bäumen und jagen nachts. Eigentlich solltet ihr euch also nicht begegnen. LDS sind merkwürdige Heilige. Ich erkläre euch das besser später. Ich hätte sie jetzt noch gar nicht erwähnen sollen. Hütet euch vor den Menschen, wollte ich sagen – auch von denen gibt es ein paar hier oben.“
Die Neuankömmlinge waren mit Ramses‘ Erklärung zwar keineswegs zufrieden, denn sie wollten immer alles ganz genau wissen, aber da der Frosch deutlich machte, daß er im Moment mehr nicht sagen würde, gaben sie sich zufrieden, brummten und quiekten ihren halbwegs höflichen Dank in seine Richtung und verließen dann die Höhle, um endlich ihre Neugierde zu befriedigen.
Tumu blieb als letzte und beseitigte seufzend die wenigen Frühstücksreste. Neue Welt hin oder her – die alten Gewohnheiten hatten die Bärenlebener leider mitgebracht. Alle anderen waren ihr deshalb schon weit voraus, als sie endlich nach draußen trabte und schnuppernd den Kopf hob. Sofort stieg ihr den Geruch von Honig in die Nase. Die Quelle konnte nicht weit entfernt sein. Vorsichtig und nach allen Seiten witternd setzte sie sich in Bewegung.
Die anderen Bären hatten es so eilig gehabt, ihre neue Umgebung zu erforschen, daß sie von dem verführerischen Duft direkt vor ihrer Tür nicht das Geringste wahrgenommen hatten. Nur das Schwein hatte die süßen Düfte erschnüffelt, sich aber nicht weiter darum gekümmert, da Honig nicht zu den schweinischen Grundnahrungsmitteln zählt. Jetzt stakte es zögernd vorwärts und suchte hinter jedem Baum und Busch, ja selbst im hohen Gras Tarnung. Menschen gab es hier oben, Menschen und Kühe, hatte Ramses gesagt. Die Kühe mußten den Menschen gehören; die Menschen schlachteten die Kühe, und wer Kühe schlachtet, schlachtet auch Schweine. Das Schwein fürchtete sich und hatte das Gefühl, die weite Reise völlig umsonst gemacht zu haben.
Kulle stapfte im Sturmschritt dahin, so daß seine Fliege im selbst erzeugten Winde wehte, und achtete nicht auf Weg und Steg. Das war eigentlich kein Fehler, denn es gab dort, wo er entlanglief, weder Weg noch Steg.
Aber Kulle achtete auch nicht auf die Richtung, in die er ging, er sah sich nicht nach Wasserquellen um, er war einfach blind für seine Umgebung. Erst jetzt, nein, exakt erst heute in den frühen Morgenstunden, war ihm klargeworden, was der Exodus aus Bärenleben für ihn bedeutete. Seine gesamte Bibliothek hatte er zurücklassen müssen, aber das war nicht das schlimmste. Dank seines hervorragenden Gedächtnisses kannte er die meisten wichtigen Werke auswendig. Das Schlimmste war, daß er, der bedeutende Wissenschaftler, in einen einsamen Gebirgsstock in einem unbekannten Land verbannt war, über dessen politökonomische Grundlagen er konkret kaum etwas wußte. Er wußte nur eines sicher: Wenn es ein Land auf der Welt gab, in dem keine sozialistische Revolution stattfinden würde, dann waren das die USA. Wütend über sich und seine Lage köpfte er die Blumen am Wegesrand, wohl wissend, daß der junge Goethe über ihn lachen würde, weil er sich genauso ohnmächtig zornig benahm wie Zeus, an den Prometheus nicht mehr glaubte, und das Wissen um sein unnützes Wissen machte ihn um so gereizter.
Manfred fühlte sich wesentlich glücklicher. Es galt, einen neuen Kontinent zu erforschen und sich mit den Mitteln des Technikers darin einzurichten. Er begutachtete seine Umgebung und entschied sich für den anstrengendsten Weg – bergauf, möglichst weit bergauf. Denn wer oben auf einem Berg stand, der konnte hinunter in die Täler schauen, und genau darauf kam es Manfred an.
Bärdel schien sich mit dem Schwein abgesprochen zu haben, was das Verhalten betraf, obwohl beide nichts voneinander wußten. Äußerst vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und achtete darauf, ständig in Deckung zu bleiben. Er fürchtete sich vor einer Begegnung, vor einem Wiedersehen, obwohl er nie endgültige Klarheit darüber gewonnen hatte, ob das Treffen, an das er sich erinnerte, wirklich stattgefunden hatte. Bärdel erinnerte sich an seine erste Reise nach Amerika. (vgl. „Bärdel meets Smokey“.)
Dina hatte im Gegensatz zu ihm überhapt keine Sorgen. Sie war jung und hatte sich problemlos an die Höhe gewöhnt. Unbekümmert stöberte sie durch Wald und Gebüsch und stromerte über blumenbedeckte Wiesen, bis sie sich schließlich an einem blitzblanken springlebendigen Bergbach satt trank, sich auf den Rücken warf und in den blauen Himmel träumte.
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Manfreds Herz hüpfte. Keine fünfzig Meter unter ihm stand eine Radiostation, und nicht weit davon entfernt ragten die Masten einer Hochspannungsleitung empor. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Manfred vermutete, daß sich das erst dann ändern würde, wenn irgendwo eine Fehlfunktion auftrat. Er grinste. Seinetwegen würden die Menschen nicht kommen müssen.
Bärdel griff sich an die Brust. Er hatte noch nie in seinem Leben Herzschmerzen gehabt und wußte nicht, wie sie sich anfühlten, aber jetzt war er sicher, daß er welche hatte. Dieser stechende, lähmende Schmerz konnte nur einen schweren Herzanfall bedeuten. Bewegungslos stand er vor einem Plakat, das flüchtig an eine Anschlagtafel geheftet war. „No Campfires“, sagte es, und für den Fall, daß jemand nicht lesen konnte, zeigte es das Bild eines Lagerfeuers, das von dicken roten Balken durchkreuzt war. Eine Ecke des Plakats war lose und flappte sanft im schwachen Wind. Darunter war immer dann, wenn die Ecke nach unten klappte, ein Feuerwehrhelm zu erkennen.
Dinas Herz schien einen Sprung zu machen und dann stillzustehen, als sie direkt neben sich plötzlich ein lautes Knacken und Rascheln hörte. Sie zwang sich, bewegungslos liegenzubleiben. Ob das die Menschen waren oder die LDS, von denen Ramses so geheimnisvoll gemurmelt hatte? Oder vielleicht ein Cougar, der heute beschlossen hatte, nicht tagsüber zu schlafen, sondern statttdessen neu angekommene Bärinnen zu fressen? Sie hielt die Augen fest geschlossen und war überzeugt davon daß niemand sie sehen konnte, denn sie selbst sah ja auch niemanden. Sie blinzelte auch kein kleines bißchen, als sie neben ihrem Ohr ein lautes Brummen hörte.
Das Schwein faßte sich nach langem Zögern ein Herz und näherte sich einer gemütlich aussehenden schwarzen Kuh mit weißem Kopf, die gemeinsam mit ihrem Kalb auf einer Waldlichtung graste. Ohne seine Deckung aufzugeben, erkundigte es sich nach den hiesigen Menschen und deren Verhalten. „Menschen?“ brummte die Kuh. „Kenn‘ ich nich‘.“ „Aber…“ wollte das Schwein einwenden, jedoch die Kuh schnitt ihm das Wort ab. „Hier gibs nur Mütter unn Kinner, unn Stiere natürlich. Wolln immer bloß das eine, die unverschämten Kerle. Unn Cowboys. Die sinn gefährlich, weil se dich nämlich verbrenn. Oder se machn dirn Loch ins Ohr ohne Betäubung, wie bei mir. Siehste?“ Sie wendete den Kopf, so daß das Schwein ihr rechtes Ohr sehen konnte, in dem ein rotes Plastikdreieck steckte, auf dem „77“ stand. „Aba die komm nur ganz selten. Unn so ne halbe Portion wie du kümmert die bestimmt nich.“ Damit schien die Konversation für die Kuh beendet zu sein, denn sie gab ihrem Kalb das Euter, als seien die beiden völlig allein auf der Welt. Schamhaft wandte das Schwein sich ab. Diese Kuh machte zwar einen ungebildeten Eindruck, aber vermutlich konnte man ihren Auskünften trauen.
Tumu sah sich den Bienenstock, den sie entdeckt hatte, lange an und bewegte dabei Kochrezepte in ihrem Herzen. Nach und nach versammelte sie ältere Bärinnen um sich, die sich in der näheren Umgebung aufgehalten hatten und schon bald wieder zur Höhle zurückkamen. Sie hatten, wie Tumu auch, nach den praktischen Dingen Ausschau gehalten, die für einen funktionierenden Haushalt notwendig sind. Sie tauschten ihr Wissen aus, schlugen einander kräftig auf die Schultern und machten sich dann daran, für den ersten Abend ein Festmahl zu improvisieren.
Als der Tisch nach stundenlanger Arbeit gedeckt war, brach auch schon die Dämmerung herein, und bevor es dunkel war, hatten sich alle wieder bei der Höhle versammelt. Hungrig waren die meisten, bärenhungrig, aber Tumu bestand darauf, daß sich alle sorgfältig die Pfoten wuschen, bevor sie das Essen anfaßten.
„In Dehland konntet ihr euch darauf berufen, daß das Wasser im Bach verschmutzt war, aber hier nicht!“ erklärte sie, und ihre Stimme war so entschlossen, daß niemand zu widersprechen wagte. Erst als alle fertig waren, wünschte sie „Guten Appetit“, und alle langten kräftig zu.
„Na, wie ist es dir ergangen?“ fragte Tumu ihren Mann zwischen zwei Bissen. „Oder willst du das erst später erzählen, bei der Versammlung, weil es von allgemeinem Interesse ist?“
Bärdel schüttelte den Kopf. „Später ganz bestimmt nicht, und am liebsten dir auch nicht. Ich habe Smokey gesucht. Nein, falsch, ich habe nach Beweisen dafür gesucht, daß es ihn nicht gibt. Aber es gibt ihn. Er ist immer noch überall auf den Plakaten, obwohl die zum Teil überklebt sind. Er trägt immer noch seinen komischen Hut oder einen Helm und sagt: „Only you can prevent forest fires!“ Wenn ich an mein Erlebnis von damals denke, dann wird mir ganz angst…“
Tumu seufzte. Sie wußte, daß Bärdel seine Halluzinationen von damals nach wie vor nicht richtig einordnete, daß er nicht wußte, ob sein Treffen mit Smokey Traum oder Realität gewesen war. Wenn sie ihm sagte, daß er krank war, phantasiert hatte, nickte er zwar immer, aber ohne Überzeugung. Sie mußte ihm einfach Zeit lassen. Hier würde er sich selbst davon überzeugen, daß Smokey nichts war als das Bild eines häßlichen, nicht existierenden Bären. Sie drückte seine Hand, schmiegte sich an ihn und schwieg.
„Die Kuh hat mir erzählt, daß es hier nur Cowboys gibt, keine Menschen, und daß die für mich ungefährlich sind“, hörte sie das Schwein sagen und schmunzelte. Nach wenigen Serkunden aber wurde sie unruhig. Eine solche Bemerkung konnte Kulle unmöglich unkorrigiert lassen, aber Kulle sagte nichts. Es paßte nicht zu Kulle, nichts zu sagen, wenn er die Chance dazu hatte.
Tumu setzte sich aufrecht. „Kulle?“ fragte sie. Niemand antwortete. „Kulle?“ Wieder nichts. „Kulle fehlt!“ rief Tumu und sprang auf.
„Unmöglich“, brummte die älteste Bärin, “ es sind alle da! Ich habe für jeden ein Stück Honigkuchen gebacken, und jetzt ist keines mehr da.“ Drohend hob sie die Stimme: „Oder hat jemand etwa zwei gegessen?“
Zuerst meldete sich niemand, aber dann schob Dina sich zögernd nach vorne. „Du?“ Tumu wollte es nicht glauben. Unsoziales Verhalten paßte nicht zu ihrer Freundin.
„Nein, ich nicht. Aber sie. Ich wollte sie als Überraschung bis nachher verstecken, aber das geht jetzt wohl nicht mehr. Darf ich vorstellen: Athabasca. Wir haben uns vorhin getroffen, oder besser, sie hat mich gefunden. Sie wohnt hier.“ Dina zog eine junge Schwarzbärin mir seidig glänzendem dunkelbraunen Fell an ihre Seite, die von allen überrascht angestarrt wurde und die höflich: „Guten Abend!“ sagte.
Bärdel erwachte aus seinen Grübeleien und erinnerte sich an seine Pflichten und vor allem an seinen Freund.
„Guten Abend im Namen aller, Athaca…“ begann er und verhedderte sich in dem fremden Namen.
„Athabasca“, sagte die Fremde freundlich. „Meine Freunde nennen mich Atti, das ist leichter. Danke für das Willkommen. Aber jetzt sollten wir zuerst an den Vermißten denken und ihn suchen. Das Gelände hier ist nicht ganz ungefährlich, wenn man sich nicht auskennt. Wohin ist er gegangen?“
Die Bären sahen einander fragend und anerkennend an. Noch nie war ein Neuankömmling so selbstbewußt aufgetreten, und schon gar keine Frau. Aber niemand von ihnen wußte, wohin Kulle gegangen war, und auch das Schwein und Ramses gaben ihre Unkenntnis zu.
„Bestimmt nach oben“, murmelte Bärdel schließlich. „Ich weiß nicht, wohin er ist, aber wenn er die Möglichkeit hat, wird Kulle immer nach oben gehen.“
„Dann sollten wir uns beeilen. Wenn ein paar von euch mit mir kommen könnten, wäre das gut. Aber jung und sportlich solltet ihr schon sein. Notfalls schaffe ich es übrigens auch alleine, denke ich.“ Athabascas Stimme war ganz ruhig, ganz anders als ihr Körper. Sie hatte sich bereits umgedreht und war fertig zum Losrennen.
Bärdel, Tumu und viele andere Ältere, die schon aufgesprungen waren, ließen sich wieder niederplumpsen. Sie kannte ihre Grenzen. Manfred dagegen war mir einigen anderen Jungbären sofort an Athabascas Seite. Die sah sich das Aufgebot an Freiwilligen an, nickte zustimmend und fegte wortlos wie ein dunkler Blitz davon in die Nacht, gefolgt von den anderen.
Auf dem Platz vor der Höhle kehrte Stille ein. Niemand aß mehr, obwohl noch genug Leckereien warteten. Sie hatten keinen Hunger. Wortlos starrten sie vor sich hin, auf die dunkle Erde oder in den Himmel. Viele rückten zusammen und suchten beieinander Trost. Sie konnten sich aneinander wärmen, während Kulle da draußen war, einsam und in Gefahr.
„Wenigstens scheint der Mond“, murmelte Bärdel schließlich. Nicht weit von ihm entfernt hockte Ramses wie ein Häufchen Unglück; sein Bauch schimmerte hellgelb im fahlen Licht. „Sag mal, du kennst dich doch hier aus, oder nicht? Wohin ist Kulle gegangen, wenn er aufwärts gegangen ist?“
Ramses schien sich zu winden. „Auf den Berg…“ Er merkte, wie dumm seine Antwort war. „Die meisten Berge hier bestehen in Gipfelnähe aus losem Fels. Talus sagt man hier. Meist sind das scharfkantige Platten ohne stabiles Gleichgewicht, die unter dem Gewicht eines Bergsteigers nachgeben. Die Lehne zwischen zwei Bergen ist manchmal sehr schmal, weniger als 30 Zentimer, und wenn sie aus solchen Platten besteht, dann nennt man das hier die „Rasiermesserfalle“. Wenn Kulle von hier aus aufgestiegen ist, dann läuft er genau auf so einen „razorfang“ zu…“ Ramses‘ Stimme war immer leiser georden, und als er verstummte, herrschte Totenstille.
Lange. Sehr lange. Bis endlich in der Ferne Zweige knackten, Füße tappten, Bären brummten und schimpften. Die Zurückgebliebenen sprangen auf und starrten ihnen entgegen. Athabasca erschien als erste, überhaupt nicht angestrengt und fröhlich lächelnd.
„Wir haben ihn rechtzeitig gefunden“, sagte sie. „Was er jetzt braucht, sind ein paar ordentlich adstringierende Blätterkompressen für seine aufgeschundenen Pfoten und viel zu trinken. Und der Rest der Rettungsmannschaft hat auch ein bißchen Pflege nötig, wie es scheint.“
Hinter ihr tauchte jetzt Kulle auf, gestützt von zwei asthmatisch keuchenden Jungbären. Als sie ihn losließen, schwankte er und setzte sich vorsichtshalber schnell auf die Erde. Seine beiden Helfer taten es ihm nach.
„Entschuldigung!“ brummte Kulle. Alle horchten auf, denn es gehörte zu den ungewöhnlichsten Vorkommnissen in ihrem Gemeinschaftsleben, daß Kulle sich entschuldigte. Und er wiederholte sich sogar!
„Entschuldigung! Es tut mir leid, daß ich euch Mühe bereitet habe. Ich bin ein Dummbär, weil ich ohne zu überlegen losgerannt bin. Wenn sie nicht gewesen wäre… Aber vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie nicht gekommen wäre. Wozu bin ich denn hier nutze? Entwurzelt, meiner gesellschaftlichen Basis entkleidet! Ein Forscher ohne Gegenstand! Faux frais für euch! Ein leerer Spiegel, der die Wirklichkeit nicht zu spiegeln vermag! Ein…“
Bärdel war dankbar, daß Kulle schnell wieder in sein unverständliches soziologisches Kauderwelsch verfiel, weil er sonst wohl zu weinen angefangen hätte. Aber er verstand, was seinen Freund bewegte, und er litt darunter, daß er nicht wußte, wie er ihm helfen sollte. Da meldete sich Manfred zu Wort.
Manfred war zerschunden, seine Pfoten bluteten kaum weniger als die Kulles, und er war noch immer außer Atem. Trotz seines Kummers mußte Bärdel insgeheim schmunzeln. Sein Sohn hatte sich erkennbar nicht geschont, um der neuen Schönheit zu imponieren. „Wir sollten Kulle dankbar dafür sein, daß er heute für uns alle die Frage gestellt hat, um die wir uns ohne ihn vielleicht noch eine Weile lang herumgedrückt hätten. Die Frage lautet: Was wollen wir hier? Wollen wir uns verstecken?“
Die Versammlung nickte heftig – genau deshalb waren sie hergekommen.
„Ja, natürlich wollen wir uns verstecken, aber ist das alles? Wollen wir dumpf jeden Morgen erwachen, jeden Abend ins Bett gehen und zwischendurch darauf achten, daß wir nicht wahrgenommen werden? Soll das alles sein?“
Das Schwein nickte begeistert, aber die meisten Bären schüttelten verneinend den Kopf.
„Nein, das kann nicht alles sein. Wir Bären – und alle, die gemeinsam mit uns leben wollen – sind intelligente Wesen, neugierige Wesen. Wir wollen lernen, Wissen erwerben und Wissen weitergeben. Wir wollen die kritische Auseinandersetzung. Zu all dem haben wir seit gestern eine völlig neue Chance, denn wir sind wie neu geboren, sind in eine unbekannte Umgebung geworfen. Wir können, ja, wir müssen sie studieren, bewerten, vielleicht auch korrigieren, wenn die objektiven Umstände es erfordern. Wir haben gar keine andere Wahl!“
Die meisten Mitglieder der Versammlung hingen mit glühenden Augen an Manfreds Lippen. Bärdel allerdings blickte skeptisch. Er hatte das Gefühl, daß hier etwas nicht stimmte, wußte allerdings nicht, was. Tumu nahm sich fest vor, ihrem Sohn mal wieder den Hintern zu versohlen, auch wenn er diesem Alter eigentlich längst entwachsen war.
Und Kulle hatte all seine Schmerzen vergessen und grinste – georgische Rhetorik konnte der Junge jetzt, das bewies er nicht zum ersten Mal. Es war Zeit, daß er ihn in die höheren Weihen einführte.
„Wir leben inmitten von Menschen, wie bisher. Auch wenn die Bevölkerungsdichte hier geringer ist, Menschen bestimmen unsere Lebensbedingungen. Wir brauchen Kenntnisse über die Menschen, wie bisher. Diese Kenntnisse werden uns überleben lassen und unsere Neugier befriedigen, und diese Kenntnisse werden den Intellektuellen unter uns – wie Kulle – wieder das Selbstwertgefühl verleihen, das…“
„Schluß!“ sagte Kulle. Er sagte es ungewohnt gemütlich, aber Manfred verstand das Signal nur zu gut. Er hatte irgend einen Fehler gemacht, sonst wäre sein Rhetoriklehrer ihm nicht in die Parade gefahren. Er wußte allerdings nicht, welchen.
„Schluß! Ich sehe, hier ist noch viel zu essen, und ihr seid bestimmt hungrig. Ich übrigens auch. Wir sollten also besser essen, anstatt lange Reden zu halten. Und dann sollten wir vielleicht schlafen. Ich zumindest. Ich bin hundemüde, oder besser bärenmüde, das wird mir wohl jeder von euch glauben. Nach dem Essen oder morgen – wie ihr wollt – könnt ihr dann überlegen, wie wir hier unser Informationsnetz aufbauen. Manfred hat da bestimmt schon Ideen, wie ich ihn kenne. Aber jetzt erstmal: Guten Appetit!“
Niemand widersprach. Erleichtert machten sich alle über das Essen her, bis auch kein Krümel mehr übrig war, und danach ging einer nach dem anderen schlafen.
Ramses, den das Buffett nicht reizte, schnappte sich ein Glühwürmchen, das über die Wiese tanzte, und sog gedankenvoll an einem Flügel. Tussi hatte ihm gesagt, daß die Entscheidungen in Bärenleben anarchisch gefällt werden, und er wunderte sich über diese Aussage, bis auch er schließlich einschlief.