P. D. Kulle
Die Gliederung der Welt
HSS1Der Chef sagt, er habe keine Lust mehr, dauernd die irreführende Langform ‚Homo sapiens sapiens’ zu benutzen. Die Sekretärin hat sich dafür entschieden, seine Welt in politische Teilstücke zu gliedern, die er Staaten2Das gilt seit dem 19. Jahrhundert. Davor waren andere Begriffe üblich, meist sprach man von Reich. nennt und in denen eine für das jeweilige Teilstück charakteristische Ordnung3 Diese sogenannte Ordnung kann auch in völliger Unordnung bestehen. gilt. Die Grenzen dieser Teilstücke erscheinen willkürlich und umschließen zumeist merkwürdig gestaltete Flächen. Die gegenwärtig etwa 200 Staaten4 Es ist für unsere Untersuchung unerheblich, zwischen von den Vereinten Nationen anerkannten bzw. in Bezug auf ihren Status umstrittenen Staaten zu unterscheiden. sind unterschiedlich groß, was Territorium, Bevölkerungszahl, wirtschaftliche und militärische Stärke etc. angeht. HSS wäre nicht HSS, wenn er angesichts solcher Gegebenheiten friedlich miteinander kooperierte. Stattdessen geht es in der internationalen Politik um Herrschaft und Unterwerfung.
Wer mächtig genug ist5 Oder wer sich für mächtig genug hält, versucht eine Hegemonie aufzubauen, ein Großreich, ein Imperium, ein Weltreich zu errichten.
Definitionsversuche
Ein Weltreich ist ein Reich, das große Teile6 Was ein ‚großer Teil‘ ist, wird nirgendwo definiert. der bekannten Welt umfasst und als Ordnungsmacht fungiert. In einem solchen Reich gilt politische, wirtschaftliche, technologische, soziale, kulturelle, religiöse und sprachliche Hegemonie. Die Herrschaft beruht auf politischer Macht, ggf. auf militärischer Gewaltandrohung und auf kultureller Hegemonie. Die Menschen in seinem Herrschaftsraum sind oft ethnisch wie kulturell heterogen, sie werden entweder assimiliert oder unterdrückt.
Nicht die ‚Größe‘ an sich ist das entscheidende Kriterium; bedeutend ist die faktische Macht sowie die Ausübung von Herrschaft und Verwaltung (lat. imperium), die sich auf die Potentiale der Bevölkerung und der Wirtschaft stützen. Daher werden solche großräumigen und hierarchisch geordneten, d. h. in ein machtausübendes Zentrum und koloniale Peripherien unterscheidbaren Herrschaftsräume nach dem Vorbild des7 in Europa bekanntesten Weltreichs der Antike, des Imperium Romanum, mit einem synonymen Begriff auch als Imperium bezeichnet.
Herfried Münkler bemüht sich um eine allgemeingültig Definition:
„Imperien sind mehr als große Staaten; sie bewegen sich in einer ihnen eigenen Welt. Staaten sind in eine Ordnung eingebunden, die sie gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher nicht allein verfügen. Imperien dagegen verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch dessen, was sie als Chaos begreifen, verteidigen müssen. … Während Staaten an den Grenzen anderer Staaten Halt machen und es ihnen selbst überlassen, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln, mischen sich Imperien in die Verhältnisse anderer ein, um ihrer Mission gerecht zu werden. Deshalb können Imperien auch sehr viel stärker Veränderungsprozesse in Gang setzen, während die Ordnung der Staaten durch einen strukturellen Konservatismus geprägt ist.“8 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005, S.8
Ein Blick in den tiefen Brunnen der Geschichte
Das Achämenidenreich vom späten 6. Jahrhundert vuZ bis ins späte 4. Jahrhundert uZ, auch als Altpersisches Reich bezeichnet, war das erste persische Großreich.
In den fast 1000 Jahren seiner Existenz haben sich die Reichsstrukturen natürlich verändert, aber den Herrschern war immer bewusst, dass ein Reich nur dann besteht, wenn es die religiöse und kulturelle Vielfalt seines Volkes akzeptiert.
Der Aufstieg des Achämenidenkönigreichs begann im medischen Reich, als Kyrus II. über ganz Persien herrschte. Von dieser territorialen Basis aus eroberte er erst das gesamte medische Gebiet (den heutigen Iran und Obermesopotamien) und anschließend Lydien ( die heutige Türkei), Baktrien (Afghanistan und Teile Tadschikistans), das Königreich Babylonien (Untermesopotamien) und Assyrien (Syrien). Seine Nachfolger Kambyses II. und Dareios I. führten die Expansion des Reichs bis ins Jahr 486 vuZ fort. Auf seinem Höhepunkt umfasste es ein Gebiet vom Indus bis zur Mündung der Donau sowie von Samarkand bis zum Niltal.
Der Erfolg des Imperiums beruhte gleichermaßen auf der Größe seiner gewaltigen Armee als auch seinen beträchtlichen finanziellen Ressourcen.
Der Achämenidenherrscher war der „große König, König der Könige, König der Nationen, König dieser Erde“. Ihm unterstanden als Statthalter an der Spitze der Satrapien die Satrapen – der einzige Rang der königlichen Verwaltung. Satrapien waren keine Regionen mit festen Grenzen, vielmehr änderte sich das Gebiet je nach Einflussbereich des regierenden Satrapen. Sie besaßen ihre eigenen administrativen Netzwerke. Die Satrapen waren autonom bei der Verwaltung ihrer Gebiete, solang sie Steuern eintrieben und genügend Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und für Feldzüge bereitstellten.
Das sogenannte Alexanderreich war wesentlich kurzlebiger. Die Forschung bezeichnet so jenes Großreich, das sich unter Alexander dem Großen im Laufe des Alexanderzugs herausgebildet hatte und in seiner vollen Größe von 324 bis etwa 319 vuZ bestand. 9 Frage an die Europäer:innen unter meinen Leseri:nnen: Warum ist dieses fünfjährige Abenteuer eines übermütigen Makedonen (also eines Griechen) Euch viel bekannter als das tausendjährige stabile Reich der Asiaten? Na?
Das Alexanderreich basierte auf einer Personalunion von drei verschiedenen Herrschaftsbereichen: Makedonien, Altpersisches Reich und Ägypten. Darüber hinaus hatte Alexander die Oberherrschaft über die meisten griechischen Städte im Hellenenbund von Korinth und einige Stämme des Balkans. Sein Reich erstreckte sich damit über mindestens 19 Gebiete heutiger moderner Staaten (Griechenland, Nordmazedonien, Bulgarien, Türkei, Syrien, Jordanien, Israel, Libanon, Zypern, Ägypten, Libyen, Irak, Iran, Kuwait, Afghanistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan und Pakistan) und berührte einige weitere an ihren Peripherien (Ukraine, Rumänien, Albanien, Armenien, Aserbaidschan, Saudi-Arabien und Indien).
Alle Menschen, Hellenen wie Barbaren, sind in jeder Hinsicht gleich, einzig die Erziehung macht den Unterschied. Diese Haltung vertrat Alexander während seines Feldzugs den Asiaten gegenüber, denen er mit Respekt begegnete und die er unter seine Gefährten aufnahm, denen er in seinem Hofstaat wichtige Posten zuwies und deren Götter er achtete.
Damit tat er es den Achämeniden gleich, an deren Hof griechische Ärzte, Lehrer und Künstler in hohem Ansehen gestanden und nicht zuletzt als Söldner im Heer sehr begehrt gewesen waren. Ähnlich wie sie sah sich der ihnen nachfolgende Alexander als Herrscher, der alle Völker durch eine gemeinsame Denkweise und Lebensart zu einem Körper zusammenfügen und Brüderlichkeit unter ihnen fördern wollte. Hellenen und Orientalen sollten in allen Belangen des Staates und des Heeres gleichgestellt sein.
Der kulturelle Brückenschlag sollte durch familiäre Bande erleichtert werden. 324 vuZ wurden in einer Massenhochzeit in Susa 10.000 makedonische Krieger mit Asiatinnen verheiratet, aus deren Nachwuchs die erste Generation des neuen Staatsvolks erwachsen sollte.10 Der Erfolg dieses Experiments kann nicht überprüft werden: Nach Alexanders Tod zerfiel sein Reich im Rahmen der Diadochenkriege und wurde unter seinen Nachfolgern, den Diadochen und Epigonen, aufgeteilt.
Werfen wir zum vorläufigen Abschluss einen Blick auf Rom.
Das Römische Reich (Imperium Romanum) war das von den Römern, der Stadt Rom bzw. dem römischen Staat beherrschte Gebiet zwischen dem 8. Jahrhundert vuZ und dem 7. Jahrhundert uZ. Die Staatsform wandelte sich im Laufe der Zeit von einer (vermuteten) Königsherrschaft zur Republik und schließlich zum Kaisertum.
Das Reich übte großen Einfluss auf die von ihm beherrschten Gebiete aus, aber auch auf die Gebiete jenseits seiner Grenzen. Die Wirtschaft im Römischen Reich, Kunst und Kultur erreichten vor allem in der Kaiserzeit in Teilen des Gebietes eine Hochblüte. Die damalige Lebensqualität sollte in Europa und Nordafrika erst Jahrhunderte später wieder erreicht werden.
Latein wurde zur Amtssprache im gesamten Reich. Das Rechts- und Staatswesen Europas, insbesondere das Zivilrecht, ist maßgeblich vom römischen Recht geprägt.
Rom war also eine Erfolgsgeschichte, auch über das Ende des Imperiums hinaus. Wie sah es beim ‚Senat und Volk von Rom‘ 11 Senatus populusque Romanum, SPQRmit der Herrschaft und der Integration aus?
Das römische Bürgerrecht (civitas Romana), das finanzielle und politische Privilegien beinhaltete, war in der Antike zunächst das Bürgerrecht der männlichen Einwohner der Stadt Rom. Als die Römer ihren Herrschaftsbereich immer weiter vergrößerten, wurde das Bürgerrecht im Römischen Reich auch an weitere Personen(-Gruppen) verliehen. Gaius Iulius Caesar weitete das römische Bürgerrechtsgebiet bis an den Alpenrand aus.
Im Lauf der römischen Kaiserzeit erhielten immer mehr Personen und Personengruppen das römische Bürgerrecht, bis es durch die Constitutio Antoniniana des Jahres 21212 eine Verordnung des Kaisers Caracalla fast allen freien Reichsbewohnern verliehen wurde und in der Folgezeit als soziales und rechtliches Distinktionsmerkmal innerhalb der Bevölkerung des Imperium Romanum weitgehend seine Bedeutung verlor.
Alle Ethnien wurden in der Spätphase des römischen Reichs enkulturiert, was sich am Beispiel der Herkunft mancher Kaiser zeigen lässt. Trajan, Kaiser von 98 bis 117 uZ, stammte aus der Provinz Hispanien und war damit der erste nicht-italische Herrscher. Und Septimius Severus gar, Kaiser von 193 – 211 uZ, wurde in Leptis Magna im heutigen Libyen geboren. Er war ein Nachkomme jener Punier, die der ältere Cato in jeder seiner Reden unbarmherzig verfolgte, mochte es nun passen oder nicht.13 Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.
Ein Blick in die Neuzeit
In der Zeit des Kolonialismus und Imperialismus bauten einige europäische Länder Weltreiche auf und prägten nachhaltig die Gebiete, die sie kolonisierten. So wurde die Entwicklung in Lateinamerika von Spanien und Portugal stark beeinflusst, während Nordamerika, Afrika, Asien und Australien durch Frankreich bzw. Großbritannien sprachlich und kulturell geformt wurden. Die Tatsache, dass das Britische Empire die größte Kolonial- und Handelsmacht der Erde war, hatte die weltweite Verbreitung der englischen Sprache zur Folge, so dass Englisch heute zur universellen Welt- und Verkehrssprache geworden ist.
Die Abhängigkeit der Kolonien von ihren ‚Mutterländern‘, die sich in der Regel schlecht um ihre ‚Kinderländer‘ kümmerten, endete de jure14 und bis heute keineswegs de facto in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.
So ergibt sich die Frage: Gibt es aktuell noch Imperien? Herfried Münkler sagt ja. Er bezeichnet die USA als Imperium.15 vgl. Münkler, a.a.O.
Wir widersprechen.
Die Vereinigten Staaten von Amerika
Sind die USA ein Imperium?
Suchen wir nach Gemeinsamkeiten mit dem Imperium Romanum: Rom baute den Limes, die USA den Grenzzaun zu Mexiko. Die römische Wirtschaft basierte auf der Arbeit von Sklaven, was für die USA ebenfalls lange Zeit galt. Rom entwickelte sich von der res publica zur Alleinherrschaft, die USA sind auf dem Weg dahin.
Und so weiter. An der Oberfläche ähnelt sich manches.
Betrachten wir lieber den Wesenskern.
Sind die USA in eine Ordnung eingebunden, die sie gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher nicht allein verfügen, oder verstehen sie sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch dessen, was sie als Chaos begreifen, verteidigen müssen?
Die entschiedene Antwort lautet: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind beides. Sie haben gemeinsam mit anderen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg den Völkerbund gegründet, dem sie aber konsequent ferngeblieben sind. Anders operierten sie mit den United Nations nach 1945, an deren Regeln sie sich weitgehend, wenn auch längst nicht immer, hielten.
Andererseits versuchten sie nach dem Zweiten Weltkrieg sehr wohl, die Welt nach ihren Interessen zu gestalten.
Ab 1946 verfolgten die Vereinigten Staaten die Containment-Politik zur entschlossenen Eindämmung des Kommunismus und des sowjetischen Einflusses in der Welt. Dazu gehörte auch der Marshallplan zum Wiederaufbau Westeuropas und das Inkrafttreten des Nordatlantikpakts (NATO) am 24. April 1949. Die Vereinigten Staaten unterstützten die Royalisten im Griechischen Bürgerkrieg, Südkorea im Krieg gegen den kommunistischen Norden (Korea-Krieg) und Frankreich im Indochinakrieg, der später der Vietnamkrieg wurde. Mit der Türkei und dem Iran wurden zwei westlich orientierte, islamische Staaten in die Interessenssphäre der USA eingebunden.
Haben die USA ihr Territorium erweitert, wie das Achämenidenreich, das Alexanderreich und das Imperium Romanum es vorgemacht haben?
Westward ho! Aus den 13 englischen Kolonien wurden 50 Bundesstaaten. Die Pazifikküste bildete die ‚last frontier‘. Dort aber war Schluss, von wenigen kolonialen Abenteuern abgesehen.16 Kuba, Philippinen
Von den militärischen Abenteuern, in die sich die USA nach der Mitte des 20. Jahrhunderts stürzten, seien nur die wichtigsten genannt:
Der Koreakrieg endete 1953 mit einem Waffenstillstand, unterzeichnet von der Sowjetunion und den USA. Korea ist seitdem in zwei Staaten geteilt.
Der Vietnamkrieg endete am 30. April 1975 mit der Eroberung Saigons durch Nordvietnam17 Der Oktoberclub, eine DDR-Band, dichte spontan: „Alles auf die Straße, rot ist der Mai, alles auf die Straße, Saigon ist frei“., die letzten verbliebenen Amerikaner konnten sich mit Mühe zu Hubschraubern auf dem Dach eines Hotels retten.
Infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 kam es zum Krieg in Afghanistan. Zwanzig Jahre später verließen die letzten US-Soldaten Afghanistan fluchtartig.
Am 20. März 2003 begannen amerikanische und britische Truppen unter der Führung der USA den Dritten Golfkrieg, obwohl es dafür kein UN-Mandat gab und trotz weltweiter Proteste. Die Kriegsziele, nämlich Vernichtung von Massenvernichtungswaffen, wurden nicht erreicht, weil es die behaupteten Massenvernichtungswaffen nicht gab.
Nach der Finanzkrise 200818 Maßgeblich eine Folge der Vergabe von Hypothekenkrediten an Menschen, die gerne Hausbesitzer sein wollten, aber nicht in der Lage waren, die ihnen gewährten Kredite zu bedienen. Es ist nicht verständlich, dass der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften – sowieso umstritten – mit schöner Regelmäßigkeit in die USA vergeben wird. haben sich die USA weitgehend aus internationalen Krisenherden zurückgezogen.
Verfügen die USA über eine gewaltige Armee und über beträchtliche finanzielle Ressourcen?
Die USA verfügen über beides. An ihrer Spitze steht allerdings nicht der „große König, König der Könige, König der Nationen, König dieser Erde“, wie der Achämenidenherrscher es war.
Der Präsident der Vereinigten Saaten kann einen Krieg initiieren, der die Vernichtung von HSS zur Folge haben dürfte, in Friedenszeiten ist seine Macht dagegen durch ein komplexes System verschiedener Einflussfaktoren, die den politischen Prozess oft lähmen, eingegrenzt. Zudem hat er sein Amt auf Zeit inne: Er regiert vier, maximal acht Jahre lang.
Die ‚finanziellen Ressourcen‘ in den USA sind nicht in Regierungsbesitz, sondern in Privathand. Um handlungsfähig zu bleiben19 Das heißt, um zumindest die Staatsbediensteten weiter bezahlen zu können., muss der Präsident in kurzen Abständen um die Genehmigung einer weiteren Staatsverschuldung bitten.
Alle Menschen sind in jeder Hinsicht gleich, einzig die Erziehung macht den Unterschied – das war die Auffassung des Makedonen Alexander. Die europäischen Einwanderer in Nordamerika sahen das ganz anders. Sie dezimierten die indigenen Ureinwohner binnen weniger Jahrzehnte um 90 Prozent20 Wir erinnern uns an den sehr anders gearteten Umgang der Achämeniden und des Makedonen Alexander mit Fremden. Eine Massenhochzeit von Europäern mit Sioux, Komantschen oder Apatschen kann man sich bestimmt nicht vorstellen.. Da sie selbst keine körperliche Arbeit leisten wollten und die nicht mehr vorhandenen Ureinwohner sie nicht mehr leisten konnten, sicherten sie ihr wirtschaftliches Überleben durch den Import unfreiwilliger Arbeitskraft aus Afrika.
Innenpolitisch führte die Frage der Sklaverei im 19. Jahrhundert immer häufiger zu Auseinandersetzungen. Die einzelnen Gliedstaaten konnten über Sklavenhaltung selbst entscheiden. Der schon teilweise industrialisierte Norden war nicht auf Sklavenarbeit angewiesen, zumal dort die Immigranten ins Land strömten und das Klima weniger günstig für den Anbau von arbeitsintensiven Agrarprodukten geeignet war. Für die überwiegend agrarisch geprägten Südstaaten dagegen waren die Sklaven von großer wirtschaftlicher Bedeutung.
Der Konflikt wurde auf die für die USA typische Art und Weise gelöst: mit Waffengewalt. Von den inzwischen 33 Bundesstaaten spalteten sich elf südlich gelegene ab und erklärten sich zur Konföderation der vereinigten Südstaaten. Der Sezessionskrieg dauerte von 1861 bis 1865 und endet mit dem Sieg des von vornherein überlegenen Nordens. Nach dem Kriegsende wurden die Südstaaten im Rahmen der Reconstruction wieder in die Union aufgenommen.
Die wichtigsten Folgen des Krieges waren die Stärkung der Zentralmacht und die endgültige Abschaffung der Sklaverei in den USA.21 Das bedeutete mitnichten die Gleichberechtigung farbiger Menschen. An Massenhochzeiten war weiterhin nicht zu denken.
Wir erinnern uns: Charakteristika eines Imperiums sind politische, wirtschaftliche, technologische, soziale, kulturelle, religiöse und sprachliche Hegemonie. Imperien beruhen auf politischer und militärischer Macht. Der Herrschaftsraum gliedert sich in ein machtausübendes Zentrum und koloniale Peripherien. Imperien mischen sich in die Verhältnisse anderer ein, um ihrem Selbstverständnis gerecht zu werden: Sie verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch dessen, was sie als Chaos begreifen, verteidigen müssen.
Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten scheinbar ein Zeitfenster, sich zu einem Imperium zu entwickeln, nämlich in der Phase des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg. Scheinbar, aber nicht anscheinend: In einer Phase des Anthropozäns, in der die Weltbevölkerung exponentiell zunimmt und sich binnen zwanzig Jahren verdoppelt, ist es für ein Land mit relativ stabiler Bevölkerung, mag es auch ein großes Land sein, nur schwer möglich, die Kontrolle über ‚große Teile‘22 siehe Anmerkung 5 der Welt aufrecht zu erhalten.
Zudem haben die USA ein Handicap: 23 unter dem Gesichtspunkt, ein Imperium sein zu wollenSie sind eine Demokratie, jedenfalls bis jetzt. Auch Münkler sieht darin eine Einschränkung: In einer Demokratie können die Herrschenden gegen den Willen des Wahlvolkes nicht beliebig dekretieren, was einem Imperium dienlich sein kann.
Betrachten wir die ‚soft skills’.
Eine technologische Hegemonie ist zweifellos zu beobachten: Das Silicon Valley, von dessen digitaler Dominanz die ganze Welt abhängig ist, liegt in Kalifornien, und Kalifornien gehört zu den USA.24 Es ist fraglich, ob das noch lange der Fall sein wird. Aber lassen sich Amazon, Apple, Meta und Musks X-Unternehmungen mit den USA gleichsetzen? Anders als in der VR China, wo die KPCH ihre schwere Hand auf alles gelegt hat, ist das zu bezweifeln.
Jenseits einer sehr dünnen Oberfläche ist weder eine soziale noch eine kulturelle Hegemonie auszumachen. Nun gut, man trinkt in vielen Ländern der Welt Cola und isst Hamburger, aber den mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt in den USA, der stark auf Gewaltverhältnissen beruht, seien sie monetär oder durch Waffengebrauch verankert, mögen andernorts nur Autokratien imitieren.
Was religiöse Hegemonie angeht, so feiert global aktuell der Islam Feste, wiedergeborene Christen bleiben meist auf die Vereinigten Staaten beschränkt.
Und was die Sprache betrifft: Die weltweite Dominanz des Englischen verdankt sich, wie bereits erwähnt, dem britischen Empire.
Selbstredend kann nicht die Rede davon sein, dass die USA jemals die augusteische Schwelle überschreiten werden.25 Die augustepische Schwelle bezeichnet Reformen, durch die ein Imperium seine Expansionsphase beendet und in die Phase der geordneten Dauer, des lange währenden Bestandes überführt wird. Nach Münklers Definition haben langlebige Imperien die augusteische Schwelle überschritten, indem sie die Peripherie ihres Machtbereichs an den Errungenschaften und am Wohlstand ihres Zentrums teilhaben ließen.
Da sind Trump und seine Grand Old Party vor.
Juni 2024
Fußnoten:
- 1Der Chef sagt, er habe keine Lust mehr, dauernd die irreführende Langform ‚Homo sapiens sapiens’ zu benutzen. Die Sekretärin
- 2Das gilt seit dem 19. Jahrhundert. Davor waren andere Begriffe üblich, meist sprach man von Reich.
- 3Diese sogenannte Ordnung kann auch in völliger Unordnung bestehen.
- 4Es ist für unsere Untersuchung unerheblich, zwischen von den Vereinten Nationen anerkannten bzw. in Bezug auf ihren Status umstrittenen Staaten zu unterscheiden.
- 5Oder wer sich für mächtig genug hält
- 6Was ein ‚großer Teil‘ ist, wird nirgendwo definiert.
- 7in Europa
- 8Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005, S.8
- 9Frage an die Europäer:innen unter meinen Leseri:nnen: Warum ist dieses fünfjährige Abenteuer eines übermütigen Makedonen (also eines Griechen) Euch viel bekannter als das tausendjährige stabile Reich der Asiaten? Na?
- 10Der Erfolg dieses Experiments kann nicht überprüft werden: Nach Alexanders Tod zerfiel sein Reich im Rahmen der Diadochenkriege und wurde unter seinen Nachfolgern, den Diadochen und Epigonen, aufgeteilt.
- 11Senatus populusque Romanum, SPQR
- 12eine Verordnung des Kaisers Caracalla
- 13Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.
- 14und bis heute keineswegs de facto
- 15vgl. Münkler, a.a.O.
- 16Kuba, Philippinen
- 17Der Oktoberclub, eine DDR-Band, dichte spontan: „Alles auf die Straße, rot ist der Mai, alles auf die Straße, Saigon ist frei“.
- 18Maßgeblich eine Folge der Vergabe von Hypothekenkrediten an Menschen, die gerne Hausbesitzer sein wollten, aber nicht in der Lage waren, die ihnen gewährten Kredite zu bedienen. Es ist nicht verständlich, dass der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften – sowieso umstritten – mit schöner Regelmäßigkeit in die USA vergeben wird.
- 19Das heißt, um zumindest die Staatsbediensteten weiter bezahlen zu können.
- 20Wir erinnern uns an den sehr anders gearteten Umgang der Achämeniden und des Makedonen Alexander mit Fremden. Eine Massenhochzeit von Europäern mit Sioux, Komantschen oder Apatschen kann man sich bestimmt nicht vorstellen.
- 21Das bedeutete mitnichten die Gleichberechtigung farbiger Menschen. An Massenhochzeiten war weiterhin nicht zu denken.
- 22siehe Anmerkung 5
- 23unter dem Gesichtspunkt, ein Imperium sein zu wollen
- 24Es ist fraglich, ob das noch lange der Fall sein wird.
- 25Die augustepische Schwelle bezeichnet Reformen, durch die ein Imperium seine Expansionsphase beendet und in die Phase der geordneten Dauer, des lange währenden Bestandes überführt wird. Nach Münklers Definition haben langlebige Imperien die augusteische Schwelle überschritten, indem sie die Peripherie ihres Machtbereichs an den Errungenschaften und am Wohlstand ihres Zentrums teilhaben ließen.