Anna hat lange mit Otto diskutiert und Otto lange mit Anna. Ob sie versuchen sollen, in dem Dorf zu leben, in dem Bären leben. Versteckt in Dehland. In Bärenleben.
Aber eben da liegt das Problem: Wie sollen sie einen Ort finden, den sie nicht finden sollen?
Es gibt eine Spur, die die Bärenlebener gelegt haben. Sie verbergen zwar ihre Existenz, aber sie verstecken nicht ihre Gedanken. Sie veröffentlichen Texte. Und dabei sind sie am Dialog interessiert, und sie haben eine Email-Adresse angegeben: Baer add Baerdel Punkt de. Sie wollen Rückmeldungen.
Die Texte gefallen den Beiden. Natürlich können sie denen schreiben. Aber wie wollen sie klarmachen, dass ihnen an mehr gelegen ist als an einer Rezension?
„Wir sagen einfach die Wahrheit!“ schlägt Anna vor.
„Aber das geht doch nicht!“ widerspricht Otto.
„Warum nicht?“ will Anna wissen.
„Wir können uns nicht einfach einladen und uns von den Bärenlebenern versorgen lassen. Wir haben doch kein Geld!“
„Das haben die auch nicht“, kontert Anna.
„Stimmt“, muss Otto zugeben. „Aber warum sollten sie uns glauben? Sie können uns für V-Leute halten, die geschickt worden sind, um sie auszuspionieren und zu verraten.“
„Warum sollte jemand V-Leute in Bärenleben einschleusen?“
„Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es da eine Forderung des Finanzamts…“
„Da hast Du leider recht.“ Jetzt ist Anna geknickt.
Trotz aller Bedenken ist Otto ungeduldig und tatendurstig. „Wir schreiben eine Mail. Die Adresse haben wir ja. Und dann werden wir sehen, wie sie reagieren. Ich werde einen Briefentwurf verfassen.“
Nach einer Stunde legt Otto Anna ein Blatt Papier vor die Nase. Sie liest.
‚Geschätzte Bärenlebener,
wir sind Otto und Anna. Wie unsere Namen schon sagen, lieben wir Palindrome. Manchmal nenne ich mich auch Otto Reliefpfeiler, aber Anna findet das albern.
Wir haben Eure Geschichten im Netz gelesen und sind davon begeistert. Wir können gut verstehen, dass Ihr Euch vor den Menschen versteckt, aber wir sind keine. Wir sind zwei Bären aus Bad Kösen, die gern in Euer Dorf aufgenommen würden. Ihr braucht keine Angst zu haben, dass wir Euch verraten, denn unser Motto ist: Eine güldne, gute Tugend: Lüge nie! (Falls Ihr es nicht bemerkt habt, dieser Satz ist ein Palindrom.)
Damit Ihr Euch ein Bild von uns machen könnt, schicken wir Euch ein Bild von uns.
Bitte antwortet bald!
Otto und Anna’
„Anna und Otto,“ sagt Anna.
„Ja, natürlich, steht da doch.“
„Da steht Otto und Anna.“
„Sag ich doch.“
„Das ist unhöflich.“
„Wieso? Sind zwei Bären unhöflich?“
Anna seufzt. „Na gut, schick die Mail ab. Und vergiss das Bild nicht.“
Otto vergisst das Bild nicht.
Bärdel liest den Brief und sieht das Bild und muss schmunzeln. Er zeigt Kulle den Bildschirm. „Guck mal, jetzt kriegen wir schon Post von Plüschtieren!“
Kulle schaut sich erst den Bildschirm an und dann lange Bärdel. Ihm kommt ein Verdacht. „Sag mir, hast Du mal nachgesehen, wie unsere Geschichten aus Bärenleben im Netz aussehen?“
Bärdel schüttelt den Kopf.
„Habe ich nicht. Brauche ich nicht. Alle Geschichten habe ich im Kopf.“
„Ich empfehle trotzdem eine visuelle Überprüfung.“ Kulle tippt die Adresse ein und öffnet Bärdels Seiten. „Aha!“ kommentiert er. „Guck’s Dir an!“
Gelangweilt will Bärdel nur einen Blick auf den Bildschirm werfen, aber sofort ist seine volle Aufmerksamkeit geweckt. Anstatt sein Foto zu sehen, schaut ihn ein Kinderspielzeug an. Ein Teddybär aus Plüsch, noch recht gut beisammen, aber auch schon ein wenig abgeliebt.
„Ooops,“ sagt er in Erinnerung an amerikanische Zeiten, „sehen wir alle so aus?“
„Ich bin hübscher als Du, grinst Kulle, „und Atti erst…Aber im Prinzip: Ja. Wir sehen alle so aus.“ Und zum Beweis scrollt er durch die Seiten.
„Kannst Du Dir das erklären?“ fragt Bärdel.
„Noch nicht. Aber hoffentlich bald. Als erstes fragen wir am besten den Webmaster.“
Manfred hockt wie meistens zwischen Kabeln und Monitoren in seiner Werkstatt.
„Sag mal, mein Sohn, was machst Du, wenn Du Texte aus Bärenleben ins Netz stellst?“ will Bärdel wissen.
„Interessiert Dich das wirklich? Der ganze technische Kram?“
„Weniger,“ gibt Bärdel zu. „Weniger als wenig. Was wir eigentlich wissen wollen: Was machst Du mit den Bildern?“
„Mit welchen Bildern?“ Manfred ist bass erstaunt. „Ich mache gar nichts mit Bildern!“
Wortlos ruft Kulle eins von Bärdels Märchen auf und zeigt Manfred einige Illustrationen: herzige Eisbärenzwillinge und Teddybären.
„Die sehen ja knuffig aus!“ Vor lauter Lachen kann Manfred kaum sprechen. „Wer das sieht, kommt bestimmt nicht auf die Idee, dass von Bären in Dehland auch nur die geringste Gefahr ausgeht. Aber…“ und jetzt wird er ernst: „Ich war das nicht.“
„Wer war es dann?“ grollt Bärdel.
„Keine Ahnung,“ gibt Manfred zu. „Außer mir gibt es niemanden, der Programme schreibt oder überhaupt etwas ins Netz einspeist. Das mit den Bildern muss höhere Gewalt sein.“
„Es gibt nur eine höhere Gewalt, und die heißt Tussi,“ sagt Kulle nachdenklich. „Aber die gibt sich doch nicht mit Technik ab. Es sei denn…Sag mal, Manfred, ist Ramses manchmal hier bei Dir?“
„Ziemlich oft sogar. Und er verbringt auch ohne mich Zeit in dieser Technikhöhle. Meinst Du etwa, er hat etwas mit den Bildern zu tun?“
„Tussi hat den Frosch bei uns gelassen, nachdem sie uns aus Amerika zurückgeholt hat. Als Aufpasser. Als Beschützer. Wie hast Du eben so treffend gesagt? ‚Wer das sieht, kommt bestimmt nicht auf die Idee, dass von Bären in Dehland auch nur die geringste Gefahr ausgeht.‘ Gut möglich, dass er die Spielzeugbilder eingeschmuggelt hat.“
„Wir können ihn einfach fragen!“ schlägt Manfred vor.
„Besser nicht. Ramses ist schrecklich sensibel. Ich denke, wir haben die Angelegenheit geklärt, ohne mit ihm darüber zu sprechen,“ entscheidet Bärdel, und die beiden anderen nicken ihr Einverständnis.
„Es gibt aber noch zwei andere Probleme.“ Kulle zeigt Manfred die Mail von Anna und Otto. „Wieso werden Bären, die nicht hier leben, aber hier leben wollen, ebenfalls als Plüschtiere dargestellt? Ramses’ Manipulation erklärt das nicht. Und zweitens: Die beiden stammen aus Bad Kösen!“ Kulle sagt das so dramatisch, als seien Anna und Otto mit der brasilianischen Coronavirus-Variante infiziert.
„Na und?“ fragt Bärdel.
Kulle seufzt. Manchmal ist sein bester Freund ein Abgrund des Unwissens.
„Der Kösener Senioren-Convents-Verband, kurz KSCV, gegründet 1848, Monarchisten, Bismarckverherrlicher, Antisemiten, Völkische, wenn auch in der Regel keine strammen Nazis, fest verankert in der Adenauerschen Außenpolitik, schlagen immer noch die Mensur. Sie sind Ewiggestrige.“
„Das ist aber lange vorbei, Kulle. Bis auf die Mensur. Die Statuten und Satzungen der Kösener Verbände schließen ein allgemeinpolitisches Mandat aus. Heute ist von dem Monarchistenverein ein Netzwerk zum gegenseitigen Nutzen übriggeblieben, dessen Mitglieder nach Schmissen süchtig sind,“ hält Manfred dagegen.
Bärdel staunt, was sein Sohn alles weiß, und Kulle hat keine Lust, sich auf einen Streit einzulassen.
„Jedenfalls will ich so jemanden nicht hier haben.“
„Das will ich auch nicht. Wir fragen Anna und Otto einfach, was sie mit Bad Kösen verbindet, dann haben wir schnell Klarheit,“ schlägt Manfred vor. Und er beginnt rasend schnell zu tippen:
‚Hallo, Anna und Otto,
zu Eurer Anfrage haben wir eine Rückfrage. Seid Ihr Mitglieder im Kösener Senioren-Convents-Verband?
Gruß
Manfred’
Dieser Manfred muss noch lernen, wichtige und weniger wichtige Personen zu unterscheiden, denkt Otto. Er hätte an Otto und Anna schreiben sollen. Aber das sage ich ihm später persönlich, wenn wir in Bärenleben sind.
Otto antwortet umgehend:
‚Hallo, Manfred,
wir sind keine Mitglieder und auch keine Senioren. Da wir nicht verletzt sind, benötigen wir auch keinen Verband. Was Kösen betrifft, so erinnere ich mich hauptsächlich an kräftige Frauen in Kittelschürzen, die mit Scheren, Nähmaschinen, Nadel und Faden umgehen. Anna geht es ebenso. In ihrem Kreis haben wir das Bewusstsein erlangt.
Dürfen wir nun kommen, und wenn ja, wohin?
Gruß
Otto’
„Tja,“ sagt Bärdel.
„Tja,“ sagt Kulle.
„Tja,“ sagt Manfred.
Und dann sagt eine Zeitlang keiner etwas.
„Politisch,“ versucht Kulle sich schließlich, „politisch sind die Beiden wohl exkulpiert. Scheint ein einfaches Gemüt zu sein, dieser Otto, oder?“
„Dieser Otto ist vermutlich noch jung. Sehr jung. In diesem Alter sind alle Gemüter schlicht,“ sagt Bärdel. „Denkt an den Zuzug der Eisbären vor ein paar Jahren.“
„Sagt mal,“ denkt Manfred laut vor sich hin, „haltet Ihr es für möglich, dass Anna und Otto – Plüschtiere sind? Die nach Bärenleben wollen, weil dort – Plüschtiere leben?“
„Ist es vielleicht möglich, dass in Dehland dank Tussis Wirken alle Bäreninkarnationen Plüschcharakter haben, weil, wie Brunos Schicksal gezeigt hat, echte Bären in diesem Land keine Überlebenschance haben?“ Auch Kulle denkt laut.
„Heißt das dann, dass Plüschtiere denken können, wenn Tussi sie gemacht hat?“
„Das heißt,“ sagt Bärdel fröhlich, dass wir die beiden einladen müssen. Anders finden wir nicht heraus, wie sich die Dinge verhalten. Vielleicht werden Anna und Otto zu echten Bären, sobald sie unser Dorf betreten. Oder sie leiden an einem Plüschtier-Trauma, das wir kurieren könnten. Auf jeden Fall sind es bewusste Wesen. Seid Ihr meiner Meinung?“
Kulle und Manfred finden seine Aussage vernünftig. Aber natürlich fassen die drei keinen einsamen Beschluss, sondern tragen die Angelegenheit am Abend der Dorfgemeinschaft vor. Auf deren Votum hin schreibt Manfred am Morgen danach:
‚Hallo Anna und Otto
Ihr seid herzlich nach Bärenleben eingeladen. Ihr findet uns…’.
Den Rest verschlüsselt er sehr sorgfältig.
April 2021