„Onkel Kulle, Onkel Kulle, erzählst Du uns eine Geschichte?“
„Natürlich eine Geschichte, aus der wir etwas lernen können, bitte.“
„Schön gruselig soll sie sein!“
„Ja, gruselig, aber auch realistisch. Also ohne Vampire und Zombies.“
Kulle konnte dem Charme der Eisbärenzwillinge wie immer nicht widerstehen. „Nun gut!“ sagte er. „Ich erzähle Euch, wie auf einem Planeten einmal das Ökosystem zusammenbrach.“
„Auf der Erde?“ fragte Na gespannt.
„Dumme Schwester, das geht doch nicht!“ wies Nuk sie zurecht. „Wenn auf der Erde das Ökosystem zusammengebrochen ist, sind wir Bären alle tot, und Onkel Kulle kann uns keine Geschichte erzählen, klar?“
„Sehr gut erkannt, kleine Nuk,“ schmunzelte Kulle. „Und deshalb erzähle ich Euch, wie ein alter Bär namens Elluk auf dem Planeten Edre neugierigen Eisbärenzwillingen vom Zusammenbruch des irdischen Ökosystems erzählt. Die beiden sind übrigens Schwestern und heißen An und Kun.“
„Es war einmal die Erde, und die war nicht wüst und leer, sondern es lebten auf ihren Kontinenten und in ihren Meeren Millionen von Pflanzen- und Tierarten. Die standen in vielerlei Wechselwirkungen zueinander: Sie fraßen und wurden gefressen, lebten in Symbiose, besetzten exotische Nischen oder waren weit verbreitet, und wenn es ihnen nicht gelang zu überleben, dann starben sie aus. Der der Evolution inhärente Fehler der Mutation sorgte dafür, dass neue Arten entstanden und so neue Netze geknüpft wurden.“
Nanuk nickten stolz: Dass ‚inhärent‘ ‚innewohnend‘ heißt, hatten sie schon gelernt. Und über Evolution und Mutationen wussten sie natürlich ebenfalls Bescheid.
„In späteren Jahrmillionen entwickelten sich Hominiden, eine besondere Art von Säugetieren. Sie waren wiederholt in ihrer Existenz bedroht, aber sie verfügten über eine erstaunliche Adaptionsfähigkeit. So gelang es ihnen, nahezu die gesamte feste Erdoberfläche zu besiedeln und sich als Art zu erhalten. Nach einer Jahrzehntausende andauernden numerisch recht stabilen Phase vermehrten sie sich dann explosionsartig.
Schlau war sie, die letzte überlebende Hominidenart, und so brauchte sie nicht zu verhungern. Denn sie hatte Methoden entwickelt, ertragreiche Nahrungspflanzen zu züchten, auch hielt sie Nutztiere für die Fleischproduktion. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie es in einem ihrer sogenannten heiligen Büchern heißt, er muss sich kleiden und wärmen, denn er ist felllos, er braucht ein Dach über dem Kopf, denn er ist krallenlos und hat keine Reißzähne, er braucht das Salz der Erde, und er hat die uneingeschränkte Fähigkeit, immer neue Bedürfnisse zu entwickeln, wenn man ihm lange genug sagt, dass er sie hat.
Für all das braucht der Mensch Energie, und er fand sie auf seinem Planeten: Holz, Kohle, Öl und Gas hielt die Erde in großen Quantitäten vorrätig. Diese Stoffe kann man verbrennen und so Antriebsenergie gewinnen.“
„Und jetzt kommt der Treibhauseffekt!“ Natürlich konnte Na wieder einmal ihr Maul nicht halten.
„Richtig, kleine Na, aber für An und Kun muss Elluk den Treibhauseffekt erklären, denn die beiden kennen so etwas auf ihrem Planeten nicht.
Also: Beim Verbrennen entsteht in der irdischen Atmosphäre Kohlenstoffdioxid. Dieses Gas hat es auf der Erde schon sehr lange gegeben, aber aufgrund der zahlreichen menschengemachten Verbrennungsprozesse nahm es stark zu. CO2 ist lichtdurchlässig, die Sonnenstrahlen gelangten also ungehindert auf die Erdoberfläche. Von der aufgeheizten Erdoberfläche stieg Wärme nach oben, aber CO2 ist nicht wärmedurchlässig, und so wurde es auf der Erde immer wärmer. Das heißt: In heißen Gegenden wurde es noch heißer, oft zu heiß für die Menschen, Eispanzer am nördlichen und am südlichen Pol schmolzen ab, der Meeresspiegel stieg.
Da der Mensch schlau ist, wie ich schon sagte, hat er das natürlich gemerkt und gesehen, dass diese Entwicklung für ihn nicht gut ist. Schließlich haben sich alle Menschen zusammengetan und beschlossen, die Erderwärmung auf maximal 2°Celsius zu begrenzen. Es sah tatsächlich so aus, als könnte ihnen das gelingen, denn sie konzentrierten sich auf diese Aufgabe und arbeiteten ausnahmsweise einmal zusammen, nicht gegeneinander.“
„Eine Geschichte, in der die Menschen überleben, finde ich schon gruselig!“ maulte Nuk. „Ich habe mir aber etwas anderes erhofft.“
„Warte es nur ab! Elluk macht es ein bisschen spannend. Er erzählt weiter: Vor lauter Konzentration auf die Klimakatastrophe verloren die Menschen aus den Augen, dass nicht nur die Atmosphäre der Erde, sondern auch die Fauna der Erde aus den Fugen geraten war. Sie waren so stolz darauf, wie sehr sie ihren Planeten verändert hatten, dass sie ihrem Zeitalter einen neuen Namen gaben: Sie sprachen vom Anthropozän. Sie hätten bedenken sollen, dass ein neues Zeitalter immer mit einem signifikanten Artensterben einhergeht. Sie bemerkten aber nicht, dass die größte und artenreichste Klasse der Tiere innerhalb weniger Jahre verschwand: die Insekten. Als sie es schließlich registrierten, war es zu spät. Sie fanden sich in einer veränderten Welt wieder, in der sie sterben würden. Sehr schnell sterben. Vor der Klimakatastrophe brauchten sie sich nicht mehr zu fürchten.
Weil die Bestäuber verschwanden, gab es große Ernteausfälle – bei manchen wichtigen Nutzpflanzen bis zu 90 Prozent. Auch Pflanzenfutter für Wild- und Nutztiere fehlte. Viele Tiere und Menschen verhungerten. Wer überlebte, musste auf Kleidung aus gewohnten Materialien verzichten: Baumwolle, Wolle und Leder standen nicht mehr zur Verfügung. Den Ratten ging es dagegen blendend. Sie konnten sich noch stärker ausbreiten als bisher. Denn es gab keine Insekten mehr, die für sie tödliche Krankheiten übertrugen. Sie fraßen den Menschen die letzten Lebensmittel weg.
Insekten waren auch die wichtigsten Wiederverwerter auf der Erde; ohne sie sammelten sich immer grössere Dung- und Aasmengen an.
Im letzten Jahrzehnt des Anthropozäns musste sich der Mensch also fast ausschliesslich von Getreide ernähren, das von Feldern mit viel Unkraut und kargem Boden geerntet wurde und das er gegen die wachsenden Rattenpopulationen zu verteidigen versuchte. Mit von Skorbut blutendem Zahnfleisch und von anderen Mangelkrankheiten gebeugtem Körper suchten die Menschen behutsam zwischen den überall herumliegenden toten Körpern nach irgendwelchen verbliebenen Insekten, in der Hoffnung, sie wieder an ihren angestammten Platz in der Nahrungskette zu setzen. Vergeblich.“
Kulle sah sich nach seinen Zuhörerinnen um. Na versteckte ihren Kopf unter Nuk, und Nuk hielt sich die Ohren zu, so fest sie konnte. Er stupste beide an:
„Wie ich sehe, war die Geschichte gruselig genug, richtig?“
„Puh, Onkel Kulle, schrecklich gruselig. Was meist Du – dürfen wir ein bisschen Honig schlecken, um uns davon zu erholen?“
„Ganz bestimmt. Ich kann auch ein paar Tropfen vertragen. Noch gibt es ja Bienen…“
Als sich die Zwillinge wie auch der Erzähler von der Geschichte erholt hatten, wollten Nanuk wissen, warum Kulle den Menschen schlau genannt hatte, nicht aber klug.
„Das findet Ihr beiden gefälligst allein heraus. Ihr wisst ja, wo die Bibliothek ist!“
November 2017