Augenleben

Wie alle Bärenlebener schätzte Tumu Marx‘ ideales Lebensmotto: morgens Sammler, nachmittags Fischer, abends kritischer Kritiker zu sein, und natürlich hielt sie sich nicht sklavisch an dessen Reihenfolge. Heute hatte sie sich am helllichten Vormittag in die Bibliothek begeben, um nach geeigneten Gutenachtmärchen für die Eisbärenkinder zu suchen. Nanuk waren zwar sehr intelligent und wussten dank Attis und Kulles Bemühungen auch schon sehr viel, aber oft waren sie noch die reinsten Kindsköpfe.

Tumu

Unter den Stichworten „Bärenmärchen“ und „Bärengeschichten“ fand sie im elektronischen Katalog „Stories of Winnie-the-Pooh“ und rief den Text auf. Bald musste sie laut lachen: Der Mensch, der das geschrieben hatte, kannte sich mit Bären gar nicht schlecht aus! Der wusste zum Beispiel. dass Bären fast immer an Honig denken, wenn sie zum Beispiel ein Summen hören oder eine Biene sehen. Schmunzelnd wollte Tumu Winnie beim Erklettern einer hohen Eiche verfolgen, weil er in ihrem Wipfel einen Bienenstock vermutete, als sie plötzlich mit dem rechten Auge nur noch Farben sah. Schönste Regenbogenfarben. Aber eben keinen Bildschirm mehr, keine Buchstaben, keine Bibliothek.

Sie kniff das rechte Auge zu. Links war alles, wie es sein sollte.

Sie blinzelte mit beiden Augen. Öffnete sie. Rechts blieb der Regenbogen.

Sie bekam Angst.

Einäugig fand sie den Weg ins Labor. Alle nannten die Höhle, in der Manfred unumstrittener Herrscher war, so, aber eigentlich war sie seine Kommandozentrale. Sein Bärenlebener Technikzentrum. Und sein Lagerplatz für alles das, was er irgendwann einmal an sich gebracht, wofür sich aber bisher keine Verwendung hatte finden lassen.

Manfred

„Manfred!“ Tumu stieß sich wegen ihrer ungewohnt eingeschränkten Sicht schmerzhaft die Schulter an der Wand. „Au!“

„Mama, was ist los?“

„Ich habe da noch was, warte mal,“ murmelte Manfred, nachdem Tumu mit ihrer kurzen Erklärung fertig war. Er war ein Sammler. Nie hatte er sich damit zufrieden gegeben, nur das zu erwerben – was immer erwerben auch heißen mochte -, was er unmittelbar verwenden konnte. ,Man kann ja nie wissen‘ war sein Motto – und jetzt machte es sich bezahlt. Er kramte im Hintergrund seiner Schatzkammer herum, kam mit einem riesigen Karton wieder zum Vorschein und begann auszupacken.

„Das dauert jetzt noch einen Moment“, sagte er. „Ich muss erst mal die Betriebsanleitung lesen. Aber das hier ist genau das, was wir brauchen: Augendiagnostik mit Gesichtsfeldmessung und etlichem anderem Schnickschnack.“

Tumu setzte sich und schloss die Augen. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich: Die Regenbogenfarben tanzten weiter. Die Angst tanzte mit.

„Okay, Mama“, sagte Manfred schließlich. „Komm mal her. Jetzt finden wir raus, was mit deinen Augen los ist!“ Zehn Minuten später stand sein Urteil fest: „Im rechten Auge hast Du einen großflächige Netzhautablösung. Das muss umgehend operiert werden. Sonst verlierst Du Dein Augenlicht. Du musst ins Krankenhaus.“

Plötzlich war Tumu völlig ruhig. Sie akzeptierte das Urteil. In Zukunft würde sie also auf dem rechten Auge nichts mehr sehen. Nun gut. Bären waren sowieso kurzsichtig, allesamt. Bären waren Nasentiere. Ihre Nase funktionierte ausgezeichnet. Sie würde zurechtkommen.

„Nein, das muss ich nicht. Wir dürfen das nicht riskieren. Vielleicht merken die Menschen nicht gleich, dass ich eine Bärin bin, aber später werden sie mich verfolgen mit ihren Rechnungen und Nachuntersuchungen. Sie werden Bärenleben finden, und dass das nicht passieren darf, brauche ich Dir nicht zu erklären.“

Manfred nickte. Dann schüttelte er den Kopf. „Aber, Mama…“

“Jetzt halt mal die Klappe, Jungstinker! Und mach uns hier bitte Platz! Deine kluge Mutter hat völlig recht. Ich kann Eure ganze Mischpoke schließlich nicht dauernd durch die Gegend transportieren. Aber eine kleine Netzhautfestklebung sollten wir mit Bordmitteln schon hinkriegen, hihi! Erstmal brauchen wir einen ordentlichen Operationstisch.“

Tumu hörte ein Summen und Brummen, ein Schwirren und Sirren, ein Sausen und Brausen. Mit dem gesunden Auge sah sie, dass die Luft zu tanzen begann. Aus allen Richtungen kamen Blattschneiderbienen, Blutbienen, Buntbienen, Düsterbienen, Erdbienen, Filzbienen, Fleckenbienen, Furchenbienen, Glanzbienen, Graubienen, Harzbienen, Holzbienen, Hosenbienen, Hummeln, Kegelbienen, Kuhhornbienen, Kraftbienen, Kurzhornbienen, Langhornbienen, Löcherbienen, Maskenbienen, Mauerbienen, Mörtelbienen, Pelzbienen, Sandbienen, Sandgängerbienen, Sägehornbienen, Schenkelbienen, Scherenbienen, Schienenbienen, Schlürfbienen, Schmalbienen, Schmuckbienen, Schwebebienen, Seidenbienen, Spiralhornbienen, Steinbienen, Steppenbienen, Steppenglanzbienen, Trauerbienen, Wespenbienen, Wollbienen, Zottelbienen und Zweizahnbienen angeflogen. Aller Wachsdrüsen arbeiteten auf Hochtouren.

Tumu und Manfred trauten ihren Augen nicht, Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die Insekten ein Wachsbett modelliert hatten, in dem das Basrelief einer liegenden Tumu ausgespart worden war. Nach einem abschließenden Kontrollflug brumselte eine dicke Hummel als letzte davon.

„Danke, KInder! Ihr habt was bei mir gut! Und nun, meine Liebe – mach es Dir im OP gemütlich!“

Natürlich hatte Tumu Tussis Stimme schon beim ersten Mal sofort erkannt. Alle Angst war verflogen. Wenn Tussi etwas in die Hand nahm, brauchte niemand sich mehr Sorgen zu machen, und schon gar keine Bärin in Bärenleben. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, legte sie sich auf und in das Kunstwerk der Bienen. Es schmiegte sich perfekt an ihren Körper.

„Alles klar, wie ich sehe. Entspann Dich. Entspann Dich wirklich – die besten Operateure der Welt sind eben nicht Säuger, sondern Krabbeltiere – wahrscheinlich ist das für Dich gewöhnungsbedürftig. Aber alles mit Tussi-Garantie!“

Tumu lächelte, allerdings nur zwei Sekunden lang. Dann spürte sie, wie es auf ihrem Gesicht krabbelte. Es mussten viele sein, auch wenn ihr klar war, dass jeder – jede – jedes – oh, fiel ihr ein, eigentlich wusste sie nichts von Krabbeltieren, noch nicht mal etwas über deren Geschlecht – sechs Beine hatte. Oder sogar acht, falls es Spinnen waren. Oder Dutzende, wenn es sich um Tausendfüßler handelte.

„Gaaanz ruhig!“ kommandierte Tussi. „Zu Deinem rechten Auge ist gerade eine Eliteeinheit roter Waldameisen unterwegs. Sie werden sich unter Deinem Auge versammeln, und dann werden sie Dich alle gleichzeitig beißen – Ameisensäure ist ein perfektes Anästhetikum! Vom Rest der Operation wirst Du nichts mehr spüren.“

Manfred bekam große Augen, biss sich aber auf die Zunge. Tussi wusste immer, was sie tat, beruhigte er sich. Oder versuchte es wenigstens.

Tumu registrierte ein Ende des Krabbelns und bekam gleich danach einen ordentlichen Stich versetzt – oder wohl eher einen Biss, wie Tussi gesagt hatte.

„Und jetzt“, verlangte Tussi, „machst Du Deine Augen zu. Vor allem das rechte. Nicht erschrecken – ich helfe in bisschen nach!“

Tumu erwartete einen kühlen Froschfinger auf ihrem Gesicht, aber stattdessen verspürte sie pelzige Wärme über dem rechten Auge und roch etwas – Sumpf und Moschus.

„Das ist Freundin Bisamratte“, informierte sie Tussi. „Ihre Geruchsdrüsen harmonieren perfekt mit der Wirkung der Ameisensäure. Sie wird ein paar Minuten da hocken bleiben, bis die Betäubung richtig wirkt. Manchmal seid Ihr Säuger eben doch zu etwas zu gebrauchen. Aber danach übernehmen die wirklichen Künstler. Die Operation werden Blattschneiderameisen durchführen – sie sind gerade aus Lateinamerika eingereist. Die machen Dein Auge erst mal kaputt, wie Du Dir denken kannst, und implantieren Dir eine neue Linse. Die alte taugt nämlich nicht mehr viel. Die Linse hat mir eine Freundin geschenkt. Ich kenne sie zwar noch nicht lange, denn sie ist ziemlich jung, keine dreitausend Jahre, schätze ich, aber ich halte sie für vertrauenswürdig. Sie ist eine Redwood aus Nordkalifornien und produziert glasklares Harz, das schnell zu Bernstein erstarrt. Danach musst Du bloß noch zusammengenäht werden. Diese verantwortungsvolle Aufgabe übernimmt Meisterin Kreuzspinne, berühmt für ihre Fußfertigkeit und ihren extrafeinen Klebfaden. Der Weberknecht assistiert ihr natürlich. Du darfst derweil träumen – von süßen Kaulquappenkindern zum Beispiel. Aber vermutlich ziehst Du stinkende kleine Bären vor – chacun à son goût, wie der französische Frosch sagt. Und jetzt geht‘s los!“

Tumu überließ sich willig ihren Operateuren, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Sehnerv ein aufregendes Eigenleben beginnen würde. Kaum war ihr Auge weg‘, wie sie den ersten Schritt des Eingriffs für sich übersetzte, da entfaltete sich eine Farbenpracht, wie sie sie noch nie zu sehen bekommen hatte. Sie verzichtete darauf, irgend etwas steuern zu wollen, und überließ sich dem Geschehen. Irgendwann setzten sich die Farben zu Bildern zusammen.

Eine Decke aus Geldscheinen, überwiegend Dollarnoten, lag locker auf dem Globus. Anfangs war sie dünn, reichte nicht aus, um den Erdball zu bedecken, bekam immer wieder Löcher, wurde notdürftig geflickt. Dann aber gewann sie an Fülle und Fläche, wurde flauschig wie ein Bett aus Eiderdaunen, bedeckte mit der Ausnahme Afrikas alle Kontinente, füllte sich prall und praller, schien ihre Hülle sprengen zu wollen. Sie wurde lebendig, hob sich in die Höhe, wollte sich losreißen, kam aber nicht fort. In geringem Abstand von der Erdoberfläche schwoll sie immer weiter und weiter an. Sie wurde so dick, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie platzen würde.

Sie platzte. Geldscheine taumelten durch den Weltenraum, verglühten in den Sternen, verschwanden in unendlichen Weiten. Ein Jammergeschrei erhob sich auf der Erde, die die Sonnenstrahlen endlich wieder erreichten. Verkrüppelte menschliche Wesen, bleich wie Höhlenbewohner, reckten ihre mageren Arme suchend in den Himmel und versuchten gleichzeitig, sich vor dem Licht zu schützen.

Tumu schüttelte nicht unwillig den Kopf, denn erstens war der perfekt in den Bienentisch eingepasst, und zweitens hätte sie nie gewagt, die delikate Arbeit der Meisterin Kreuzspinne und ihrer Mitoperateure zu gefährden. Sie verscheuchte den Traum, ohne sich zu rühren, und beherzigte Tussis Empfehlung. Die neueste Weltwirtschaftskrise lag ihr momentan weitaus ferner als zum Beispiel Na und Nuk und Gute-Nacht-Geschichten für die Kinder. Winnie-the-Pooh fiel ihr wieder ein und seine Vorliebe für Honig. In Bärenleben, beschloss sie, würden alle Gerichte künftig nur noch mit Kunsthonig zubereitet werden. Nie mehr würde sie zulassen, dass Bienen bestohlen wurden.

„Lobenswerter Vorsatz!“ kommentierte Tussi. „Wir sind übrigens fertig mit der Behandlung. In ein paar Tagen kannst Du wieder ordentlich sehen und den Kleinen Geschichten vorlesen. Ich werde mich übrigens dazu einladen – Geschichten von Bären von sehr geringem Verstand gehen mir runter wie Honig – pardon, wie Kunsthonig natürlich, hihi! Und jetzt wird geschlafen.“