Konsequenz


Bärdel saß gemütlich in der Aprilsonne auf der Erde und schaute den ersten Löwenzahnblättchen beim Wachsen zu. Er bleib nicht lange ungestört. In der Ferne hörte er fordernde Rufe: “Onkel Bärdel! Onkel Bärdel!“ Die hohen Stimmchen gehörten Na und Nuk. Er hatte die beiden Kleinen gerne um sich, aber er erleichterte ihnen die Suche nicht: Mochten sie ihn selber finden!

Na und Nuk

Da die Zwillinge empfindliche Nasen hatten, entdeckten sie Bärdel schnell. Er nahm sie in die Pranken, knuffte sie herzhaft, was ihnen ein entzücktes Quieken entlockte, und bot ihnen zarten Löwenzahn als Delikatesse an.

Nuk wehrte ab: “Danke, Onkel Bärdel, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Wir kommen wegen etwas Wichtigem!“

Bärdel steckte sich das wohlschmeckende Grünzeug ins eigene Maul, kaute genüsslich und erkundigte sich: “Und das wäre?“

“Du musst uns helfen, die Welt untergehen zu lassen,“ erklärte Nuk, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Da Bärdel das anders bewertete, verschluckte er sich heftig, rang nach Luft und erholte sich erst allmählich von seinem Erstickungsanfall, nachdem die Schwestern ihm kräftig auf den Rücken geklopft hatten. “Die ganze Welt oder nur die Erde?“ erkundigte er sich danach.

“Die Erde reicht,“ antworteten Nanuk im Chor.

“Und warum möchtet Ihr das, wenn ich fragen darf?“

“Du darfst immer fragen, Onkel Bärdel. Tante Atti und Onkel Kulle haben gesagt, wir seien ihnen immer herzlich willkommen, wenn wir etwas wissen möchten, aber zur Schule zu gehen brauchten wir ab sofort nicht mehr. Wir wüssten jetzt eine Menge, und wir hätten auch gelernt, wie wir uns noch fehlendes Wissen beschaffen könnten. Na ja, und daraufhin haben wir uns klargemacht, was wir wissen. Und als wir damit fertig waren, haben wir beschlossen, dass es am besten ist, wenn…“

“Schon gut, schon gut!“ unterbrach Bärdel. “Was wisst Ihr denn?“

“Wir wissen viele schöne Dinge, zum Beispiel in Mathe und Physik, und viele scheußliche. Die scheußlichen haben wir in Geschichte und Politik gelernt. Also in Menschenkunde. Die Menschen haben nichts Besseres zu tun, als sich zu vermehren und sich gegenseitig umzubringen. Das Umbringen ist übrigens nicht effizient genug, die Menschen werden immer mehr. Sie sind kurz davor, auch noch die letzten Rohstoffe auszubeuten und das Klima so zu verändern, dass nicht nur wir Eisbären, sondern auch sie selbst und andere Tiere und Pflanzen nicht mehr auf der Erde leben können. Und deshalb haben wir uns überlegt, dass ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende.“ Als eingespieltes Team hatten Na und Nuk immer abwechselnd einen Satz gesagt. jetzt schauten sie Bärdel erwartungsvoll an.

“Das klingt wohl überlegt!“ kommentierte Bärdel. “Und warum soll ich Euch beim Untergang der Erde helfen?“

“Wir … wir wissen nicht, wie wir das anstellen sollen,“ gestanden die Kleinen.

“Nun, in dieser Beziehung kann ich Euch durchaus Vorschläge machen. Aber erst müsst Ihr mir genauer sagen, welches Ziel Ihr anstrebt: Soll die Erde in Trümmerstücke zerlegt werden? Oder reicht es, wenn die Menschen von ihr verschwinden?“

Na und Nuk waren sich wie immer einig: “Es reicht, wenn die Menschen von ihr verschwinden.“

“Dazu fällt mir eine gute Methode ein. Nein, keine Seuche, auch das aggressivste Virus arrangiert sich irgendwann mit seinem Wirtstier, weil es selbst überleben will. Ich schlage einen Krieg vor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Einen Atomkrieg. Der kann ruhig lokal begrenzt sein – zur Produktion eines nuklearen Winters und zur Zerstörung der Ozonschicht reicht so etwas aus. Hetzt also zum Beispiel Indien und Pakistan aufeinander, was nicht schwer fallen sollte, und ihr habt, was Ihr wollt. Die Menschen haben nichts mehr zu essen und sterben an Krebs wie die Fliegen. Ist das nach Eurem Geschmack?“

“Super, Onkel Bärdel!“ jubelten Nanuk. “Das ist genau das, wonach wir gesucht haben. Danke! Wir sausen jetzt schnell zu Onkel Manfred ins Computerzentrum und schauen, ob wir die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan stören können. Bis bald!“

Aber bevor sich die Kleinen davonmachen konnten, bremste Bärdel sie. “Immer langsam mit den jungen Eisbärinnen!“ schmunzelte er. “Möchtet Ihr vielleicht nicht doch ein bisschen Löwenzahn? Nein? Nun, dann lasst uns wenigstens voneinander Abschied nehmen.“

Na wunderte sich: “Aber Onkel Bärdel, Du bist doch sonst nicht so feierlich! Wir kommen bald wieder!“

Bärdel wiegte seinen dicken Kopf hin und her. “Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Auch wir werden verhungern, erfrieren und an Krebs sterben, wenn Ihr Euren Krieg macht. Ob wir uns jemals wieder sehen?“

“Oh!“ sagte Nuk.

“Wieso wir?“ fragte Na.

“Wir sind mit den Menschen genetisch eng verwandt. Was ihnen schadet, schadet uns auch.“ Bärdel ließ es dabei bewenden und verkniff sich einen Seitenhieb: Das hättet Ihr in Biologie eigentlich lernen sollen.‘

“Ja, dann…“ überlegte Nuk. Und schnell kam sie zu einem Entschluss: “Ich als die Erstgeborene beschließe hiermit, dass wir mit dem Weltuntergang noch ein wenig warten. Einverstanden, Na?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: “Onkel Bärdel, gilt Dein Löwenzahnangebot noch?“

“Selbstverständlich!“ antwortete Bärdel und schloss die Beiden in die Arme. Bärenleben und auch die Menschen hatten noch einmal Glück gehabt.