Noch kämpfte der Frühling in den LaSals mit dem Winter, aber sein Sieg zeichnete sich bereits deutlich ab. Der Sturm wehte noch ab und zu Schneefahnen von den höchsten Bergen wie schon seit Monaten, aber weiter unten an den Hängen, wo die Bären ihre Höhle hatten, taute es schon gewaltig. Im Windschatten konnte es sogar gemütlich warm sein, und wenn man dort eine kleine Erhebung fand, konnte man sich sogar niederlassen, ohne einen nassen Hintern zu bekommen.
Genau das hatten Bärdel und Tumu getan.
Sie saßen in einer kleinen, von Büschen umgebenen Lichtung, die vor spätem Frost und Wind recht gut geschützt war. Lange Zeit sagten sie gar nichts und genossen die Sonne, die ihren Pelz wärmte, meist mit geschlossenen Augen. Nur ab und zu blinzelten sie und beobachteten die Knospen der winzigen Frühlingsblumen, die sich tapfer in die Höhe zu recken begannen. Endlich brach Tumu das Schweigen.
“Sag mal, mein lieber Mann – “
Bärdel brummte unwillig. Es stimmte doch, dass Frauen immer reden mussten. Dabei war er gerade sicher gewesen, dass sich ein ganz früher Kolibri in ihre Nähe verirrt hatte. Er hatte das tiefe Brummen einer riesigen fliegenden Hummel ganz deutlich gehört. Jetzt hatte Tumu ihn verscheucht. Aber er war ein höflicher Bär und besann sich schnell auf seine Manieren.
“Ja? Was soll ich sagen? Dass ich dich liebe? Aber das weißt du doch!“
Tumu knuffte ihn, halb scherzhaft und halb ungehalten, in die Seite.
“Das kannst du mir nicht oft genug sagen. Aber jetzt geht es mir um etwas anderes. Bleiben wir nun hier, oder gehen wir zurück?“
Bärdel brummte jetzt nicht mehr, er seufzte. Die Frage war ihm unangenehm, weil er noch immer keine Antwort darauf gefunden hatte. War es wirklich von Bedeutung, ob sie mit Tussis Hilfe nach Dehland zurückkehrten oder ob sie in den Bergen Utahs blieben? Hier wie dort lebten sie als versteckte Gruppe, aber einen Unterschied gab es doch: In Dehland hatten sie sich immer wieder in die Politik eingemischt, während sie hier passiv geblieben waren und sich nur vor den Menschen verborgen hatten. Das erste war ihm lieber gewesen. Aber hatte nicht gerade ihre Einmischung letztlich dazu geführt, dass sie fliehen mussten?
“Ich weiß…“ begann er sehr zögernd.
Tumu räusperte sich und brachte ihn so dazu, sie anzuschauen. Ohne den Kopf zu bewegen, gab sie ihm mit den Augen einen Wink. Er folgte der angedeuteten Blickrichtung und erspähte zwischen den zwar immergrünen, aber jetzt nur spärlich belaubten Eichenbüschen eine bekannte Schnauze. Das war ja wohl die Höhe! Kulle belauschte sie! Bärdel war wirklich nicht rachsüchtig, aber er fand, dass sein bester Freund jetzt eine gehörige Lektion verdient hatte.
Alte Ehepaare, und Tumu und Bärdel waren ein altes Ehepaar, entwickeln oft eine überraschende geistige Symbiose. Bärdel brauchte nur zu lächeln, und Tumu verstand sofort, dass er etwas vorhatte. Sie wusste allerdings noch nicht, was.
Als wäre nichts geschehen, fing Bärdel seinen Satz von neuem an.
“Ich weiß nicht. Es ist doch letztlich egal, was wir machen. Die Welt funktioniert heutzutage nach dem Gesetz der Globalisierung. Die großen Konzerne bestimmen, wo es lang geht, und dagegen ist die Politik machtlos. Demokratie und Selbstbestimmung – alles Ideen von gestern. Die Wirtschaft ist unser Schicksal, und dagegen können weder Menschen noch Bären etwas tun.“
Es raschelte in den Büschen. Bärdel schmunzelte. Der erste Schuss hatte getroffen. Auch Tumu hatte das Geräusch gehört, aber noch war ihr nicht nach Lachen zumute. Sie wusste nicht, welche Rolle ihr Bärdel in diesem Disput zugewiesen hatte.
“Und?“ fragte sie deshalb.
“Man muss die Welt nehmen, wie sie ist. Das ist eben Schicksal. Gegen das Schicksal kann man nichts machen, außer sich heroisch anzupassen. Heroisch, verstehst du? Aber Heroismus kennt ihr Frauen ja nicht!“
Jetzt hatte Tumu begriffen.
“Mit dem Schicksal hast du sicher Recht. Aber was soll die Sache mit der Anpassung? Warum passen sich die Menschen denn heutzutage an? Sie arbeiten sich tot und haben doch keine Perspektive. Sie steigern den Umsatz, aber sie selbst sind voller Angst. Überhaupt – der ganze Fortschritt ist Unsinn!“
“Wieso?“ fragte Bärdel mit gespielter Unschuld.
“ Weil der Fortschritt nur Schaden anrichtet, deshalb! Was haben die Menschen denn zum Beispiel von der sogenannten Mobilität? Sie wohnen entfernt von ihrem Arbeitsplatz, wenn sie noch einen haben, und auf dem Weg dahin stehen sie im Stau!“
Bärdel lächelte milde.
“Eben hast du noch zugegeben, dass die Welt sich schicksalhaft entwickelt. Zum Schicksal gibt es keine Alternative. Wieso kannst du eine alternativlose Entwicklung kritisieren?“
Tumu fand es nicht fair, dass Bärdel sie in einem Schaukampf in die Enge trieb, aber sicher wollte er, dass ihr Scheingefecht möglichst echt aussah. Das sah sie auch ein – Kulle war alles andere als dumm. Sie wehrte sich tapfer.
“Ich versuche eben zu retten, was zu retten ist. Literatur und Kunst zum Beispiel. Traditionelle Literatur, nicht etwa diese Machwerke von der Streeruwitz. Und traditionelle Kunst, bei der im Theater Hamlet noch Prinz von Dänemark ist und nicht irgendein verzweifelter Jungmanager. Bei Jungmanagern geht es doch nur um Geld, bei Hamlet geht es um Höheres.“
Bärdel ahnte, dass er Tumu jetzt in heillose Verstrickungen treiben würde, wenn er nachfragte. Nach welchem “Höheren“ strebte Hamlet denn? Nach der Liebe? Der Familienehre? Der Macht? Der gekränkten Eitelkeit? Er ließ das Thema lieber fallen.
“Das ist doch Schnee von vorgestern. Wen interessiert das heute noch? Du musst auch das Positive sehen. Was war denn gestern und nicht vorgestern? Nicht dein Hamlet, sondern Hedonismus. Spaßgesellschaft nannte sich das und war doch nichts anderes als Oberflächlichkeit. Garantiert wurde alles durch den Sozialstaat. Übrigens, ich finde diesen sogenannten “Rheinischen Kapitalismus“ widerlich. Aller berechtigte Streit wurde “einvernehmlich“ beigelegt. Welcher Schwindel! Unvereinbare Widersprüche sind nicht “einvernehmlich“ lösbar. Und erst die soziale Hängematte! Die Sozialschmarotzer haben sich darin gesuhlt, anstatt die natürliche Härte des Daseins zu spüren zu bekommen. Du musst vernünftig denken, Tumu!“
In den Büschen ertönte ein lauter Seufzer, aber sowohl Bärdel als auch Tumu gaben vor, ihn zu ignorieren.
“Willst du etwa an die Vernunft appellieren? Die Vernunft des Kapitalismus? Die männliche Vernunft? Aufklärung und Vernunft – das sind doch nur Chimären. Technische “Vernunft“ hat 1912 erklärt, dass die Titanic unsinkbar sei. Eure sogenannte Vernunft hat das Schiff mit dem Eisberg kollidieren lassen. Vernunft ist der falsche Weg. Gefühl, Bärdel, ist alles, und alles andere ist Schall und Rauch!“
Tumu hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen, aber es gelang ihr. Bärdel verzog leicht die Mundwinkel – seine Frau war wirklich überzeugend, gerade als Frau, wie es dem Klischee entsprach, fand er. In den Büschen war deutlich ein verhaltenes Zähneknirschen zu hören.
Bärdel nahm sich zusammen. Jetzt war er wieder dran.
“Wie melancholisch, wie anachronistisch! Weibliches Sentiment! Das Leben, meine Liebe, ist Kampf, und jetzt gerade erlebt die Menschheit das wahre, wirkliche Leben, tragisch wie in der Antike. Du lebst doch jetzt schon lange genug in den USA, um zu wissen, wie das aussieht. Wie das aussehen muss! Keine Kranken-, keine Sozialversicherung, Dumpinglöhne – so ist es richtig. Menschliches Leben ist Kampf ums Dasein! Und da es Schicksal ist, kann niemand etwas daran ändern!“
“Natürlich muss das sein, aber es muss nicht so sein. In der globalisierten Zukunft droht allen nur Zwang und Unfreiheit, daran können wir nichts andern. Aber…“
In den Büschen raschelte es, rauschte es, Zweige knackten, und Kulle brach ungestüm hervor. Er erklärte weder sein Erscheinen, noch entschuldigte er es. Er schien sich zur rechten Zeit am rechten Platz zu fühlen.
“Unsinn, die Globalisierung ist kein Schicksal. Sie ist von Menschen gemacht.“ knurrte er. Und feierlich fuhr er fort:
“ In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse…“
Bärdel und Tumu fielen ein:
“…die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt…“
Kulle hatte den Chor mit einem Finger dirigiert und signalisierte jetzt den Abbruch.
“Im Text wird jetzt weiter erklärt, wann und warum die Revolution fällig ist, aber wem sage ich das. Ich gebe zu: Ihr habt mich ertappt. Eigentlich wollte ich euch nicht belauschen, aber ich war doch versucht herauszufinden, welche Tendenz ihr in Sachen Rückkehr oder Bleiben verfolgt. Darüber habe ich leider nichts erfahren. Euer Gespräch hat mich übrigens heftig auf die Bärenpalme gebracht. Das kann doch nicht euer Ernst sein…“
“Nein?“ fragte Tumu.
“Wirklich nicht?“ wollte Bärdel wissen.
“Nein, denn ich weiß doch, dass ihr Bären seid, die…“
“..dass wir Bären sind, die wenigstens wichtige Teile des Vorworts zur politischen Ökonomie von Karl Marx auswendig können, und das nicht, weil wir gerne auswendig lernen, sondern weil wir diese Aussagen für wichtig und richtig halten – richtig?“
“Ja.“
“Also – war das unser Ernst?“
“Nein. “ (Die skizzierten Positionen sind wirklich nicht die von Bärdel und Tumu, wohl aber die mancher europäischer Philosophen (und solcher, die es gern sein möchten))
Also – gehen wir zurück?“
Kulle dachte eine Moment lang nach. Dann sagte er:
“Selbstverständlich. Wir gehen dahin, wo wir uns einmischen können. Als selbstbewusste Bären können wir gar nicht anders. Ich gehe schon mal meine rote Fahne suchen.“
Kulle stapfte davon. Im Gehen murmelte er vor sich hin:
“Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“
Tumu und Bärdel lächelten einander an.
“Das war jetzt aber kein Scherz mehr, oder?“ fragte Tumu sicherheitshalber.
“Nein, meine Position ist klar. Ich gehe und berufe die Bärenversammlung ein. Ich denke, alle werden sich für die Rückreise aussprechen.“
Tumu blieb allein auf der Lichtung zurück und schaute wehmütig in die Ferne. Es war Zeit, Abschied zu nehmen.