Dr. phil. Kulle, P.D.
Inhalt:
- Der Begriff der Moderne
- Der Mensch der Moderne
- Geistesgeschichtliche Hintergründe
- Merkmale der Postmoderne
- Der Mensch der Postmoderne – der proteische Mensch
Vorwort
Ein Gespenst geht um 1, nicht nur in Europa, sondern in der gesamten so genannten zivilisierten, also vulgo industrialisierten Welt. Es handelt sich um den proteischen Menschen. Dieses Phantom geistert durch die Köpfe vieler menschlicher Männer 2 , die sich selbst als postmoderne Philosophen bezeichnen oder gerne bezeichnen lassen. Dieses Gespenst bereitet mir, anders als das Gespenst des Kommunismus, das Karl Marx und Friedrich Engels 1848 beschworen haben, keine Hoffnungen. Dieses Gespenst des 19. Jahrhunderts war nämlich real und verhieß eine lebenswerte Zukunft. Das neue Gespenst bereitet mir auch keine Furcht. Es existiert nämlich nicht. Was zu beweisen sein wird.
Proteus
Wer oder was war oder ist der Namensgeber des angeblich existierenden proteischen Menschen? Auszuschließen sind der sechste gleichnamige Mond des Planeten Neptun, Proteus anguinus, der Grottenolm, und ebenso die Proteusbakterien, die im menschlichen Körper schwere Blasen- und Nierenbeckenentzündungen verursachen können 3. Auch ein Flugzeug der Firma Scaled Composites kommt nicht in Betracht, ebenso wenig wie manches andere 4. Näher kommen wir der Antwort auf unsere Frage, wenn wir einen Blick auf die Homer zugeschriebene “Odyssee” werfen. Dort begegnen wir Proteus, einem alten, weisen und wandlungsfähigen Meeresgott, der auf der Insel Pharos als Robbenhüter lebt. Im Zentrum und auf dem Gipfel der griechischen Mythologie, auf dem Olymp, finden wir schließlich den wahren Proteus, den Ur-Proteus als Glied der zeusschen Götterfamilie. Er ist ein Meister der Verwandlung und kann jede beliebige Gestalt annehmen.
Die Moderne
Der Begriff der Moderne
Mir als seriösem Wissenschaftler ist der Begriff “Moderne” zutiefst zuwider, stammt er doch aus einem Bereich des gesellschaftlichen Überbaus, dem naturgemäß ein Übermaß an Freiheit und Kreativität, damit auch an Unernsthaftigkeit, zugesprochen wird, nämlich aus der Kunst bzw. der Kunstgeschichte. Wie dem auch sei, der Begriff wurde allmählich auch von ernsthaften Wissenschaften wie der Soziologie adaptiert und so zur Quantité non négligeable.
Die Vorstellungen von Anfang und Ende dieser Epoche sind jedoch bis zum heutigen Tag ebenso unscharf wie der Epochenbegriff selbst. Begann die Moderne 1789 mit der Französischen Revolution oder erst am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Entstehen des Naturalismus in Deutschland? Endete sie 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 5, 1990 mit dem Ende der Bipolarität, oder dauert sie noch an? Das ist alles umstritten.
Ich erspare es mir und dem Leser, an dieser Stelle die angeblichen oder tatsächlichen Merkmale dieser so genannten “Epoche” aufzulisten – das lässt sich ebenso gut bei Wikipedia 6 oder in anderen Lexika nachlesen. Zentral und unbestritten ist jedoch, dass dieser wie auch immer definierte Zeitabschnitt der Menschengeschichte von einem bisher unbekannten und revolutionären Wirtschaftssystem dominiert wurde, nämlich dem Kapitalismus 7. Ja, revolutionär. Zwar stellte der Kapitalismus die Welt nicht vom Kopf auf die Füße 8, aber er verpasste ihr eine ordentliche Drehbewegung.
Der Mensch der Moderne
Welches Menschen bedarf ein Wirtschaftssystem, das auf Privateigentum an Produktionsmitteln basiert und nur ein Ziel verfolgt, das der Profitmaximierung? Hier gilt es zu differenzieren.
Der Mensch im Kapitalismus, sei er Bourgeois oder Proletarier, ist ohne Arbeitsethik nicht überlebensfähig, ob er sie sich nun freiwillig aneignet wie die protestantische Ethik 9 oder von der “Peitsche” des “Aufsehers” bei Strafe seiner Entlassung dazu gezwungen wird. In der Phase der ursprüngliches Akkumulation ist daneben die Bereitschaft zu bescheidenem Lebenswandel gefordert – knappes Kapital muss reinvestiert werden, mit Hungerlöhnen müssen große Familien ihr Leben fristen. Anders stellt sich die Lage dar, wenn der Kapitalismus in die Phase der Massenproduktion von Waren nicht nur mit Maschinen, sondern auch durch Maschinen eingetreten ist – dann ist nicht mehr Asketentum erwünscht, sondern Konsum; dann wird die Warenwelt weiter und weiter entfaltet, so dass alle tatsächlichen oder von den Marketingabteilungen der Unternehmen vorgegaukelten materiellen Bedürfnisse befriedigt werden können. Zumindest theoretisch. Die Kehrseite der Produktion von Waren und auch Dienstleistungen durch Maschinen besteht darin, dass die menschlichen Produzenten und Dienstleister ihre Arbeit verlieren, ihrer gewünschtern Rolle als Konsumenten also nur noch äußerst eingeschränkt gerecht werden können, was wiederum der Produktion Grenzen setzt.
Die Postmoderne
Geistesgeschichtliche Hintergründe
In Bezug auf die Moderne wird immer wieder behauptet, sie sei von einem großen Fortschrittsglauben geprägt worden. Für das 19. Jahrhundert ist das zweifelsohne der Fall. Wenn allerdings die Erosion oder gar das Ende des Fortschrittsvertrauens auch das Ende der Moderne eingeläutet oder bedeutet haben sollte, dann müsste das bereits 1912 der Fall gewesen sein, als die “unsinkbare” Titanic von den Fluten des Atlantiks verschlungen wurde. Aber lassen wir das.
Fortschrittsglaube, menschlicher Fortschrittsglaube impliziert die Vorstellung, die Welt erkennen und beherrschen zu können. Verfechter der These, die menschliche Gesellschaft befinde sich heute nicht mehr in der Phase der Moderne, sondern in der der Postmoderne, argumentieren gerne damit, beides habe sich als Illusion erwiesen, und zitieren zum “Beweis” mit Vorliebe den Physiker Werner Heisenberg oder den Mathematiker Kurt Gödel. Beide haben in der Tat erkannt, dass Termiten an ihren jeweiligen wissenschaftlichen Gebäuden nagen.
Heisenberg kam zu der Feststellung, dass im Quantenraum eine objektive Beobachtung unmöglich ist, weil der Beobachter das Experiment beeinflusst. Wohlgemerkt, im Quantenraum, also im Picobereich – das bedeutet 10-12 m und kleiner. Postmoderne “Wissenschaftler” weisen unter Berufung auf diese Heisenbergsche Unschärferelation die Idee einer festen, objektiven Realität zurück. Bei Rifkin heißt es:
“Die Welt ist den Postmodernisten zufolge ein menschliches Konstrukt”. 10
Rifkin zitiert Heisenberg:
“Unsere wissenschaftliche Arbeit in der Physik besteht darin, Fragen über die Natur zu stellen in der Sprache, die wir besitzen.” 11
Die Sprache der Physik ist die Mathematik, das steht schon bei Galilei, und in mehr als 400 Jahren hätte man das lernen können. Aber welche Folgerungen ziehen postmodernefreundliche Bestsellerautoren aus dieser Aussage?
“Realität ist damit also eine Funktion der Sprache.” 12
Hier liegen nicht nur Leseschwäche und ein kapitaler wissenschaftlicher Lapsus in Bezug auf Schlussfolgerungen vor, sondern auch ein Rückfall in subjektiven Idealismus, ja mehr, in Solipsismus. Anstatt eines bärischen Wutausbruches über so viel Dummheit lasse ich lieber Goethe sprechen, der einen Solipsisten sagen lässt:
“Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein.”, worauf ihm Mephisto, der Teufel, antwortet:
“Der Teufel stellt dir nächstens doch ein Bein.” 13
Jedenfalls ist mit derlei “Theorie” keine neue Epoche zu machen.
Merkmale der Postmoderne
Wie wir gesehen haben, ist es um die theoretische Legitimation der Postmoderne schlecht bestellt. Wie viel schwerer haben es deren Verfechter da erst auf der materiellen Ebene angesichts der Tatsache, dass die grundlegenden Produktionsverhältnisse des Kapitalismus dieselben geblieben sind, ja, sich sogar nach der Implosion des so genannten “real existierenden Sozialismus” auf den gesamten Globus ausweiten konnten! Aber sie begreifen dergleichen keineswegs als Fortschreibung des alten, sondern erfinden flugs einen neuen Kapitalismus.
Wir haben es angeblich mit einer neuen Ära zu tun, der des kulturellen Kapitalismus, in der nur noch die Verfügbarkeit, der Zugang, zählten, wohingegen das Eigentum immer bedeutungsloser werde 14. Dinge herzustellen, auszutauschen und Eigentum zu akkumulieren, sei nebensächlich geworden 15. Dieser neue Kapitalismus habe Zeit, Kultur und gelebte Erfahrungen warenförmig gemacht. 16
Immerhin – Lyotard, Baudrillard und wie sie alle heißen, geben zu, dass sie im Kapitalismus leben. Sie meinen, eine neue Qualität des Kapitalismus zu benennen, und verkennen, dass es sich lediglich um eine quantitative Verschiebung des Systems handelt. Niemand leugnet, dass moderne kapitalistische Gesellschaften Dienstleistungsgesellschaften sind, dass sie also, wie Rifkin formuliert, Zugang und Verfügbarkeit ermöglichen. Angesichts einer immer stärkeren Vernetzung der Menschenwelt einerseits – niemand kann sich das Internet kaufen, jeder kann sich nur gegen eine Gebühr einloggen – und der durch Arbeitslosigkeit und Lohndumping auf internationaler Ebene prekären finanziellen Situation der abhängig Beschäftigten in den Industrieländern andererseits ist ein anderer Weg unrealistisch. Daraus aber die Schlussfolgerung zu ziehen, der Kapitalismus habe sich dergestalt gewandelt, dass Eigentum und die Herstellung von Produkten nicht zählten, ist völlig falsch. Eine solche Argumentation betrachtet nur die Konsumentenperspektive und nicht die der Produzenten, die immer noch all das herstellen und über dessen Qualität verfügen, was die Massen in Abhängigkeit hält: Kühlschränke, MTV, Soap Operas und Autos, oft auf der Basis von Nutzungsverträgen. Nicht zuletzt verfügen die Besitzer der Produktionsmittel über das (Aktien-) Kapital, an dessen Mehrung sie interessiert sind.
Der Mensch der Postmoderne – der proteische Mensch
Wie wir oben gesehen haben, ist der griechische Gott Proteus ein Formwandler. Ähnliche Fähigkeiten werden von den Postmodernisten auch dem proteischen Menschen zugesprochen. In der Postmoderne verändern die Menschen angeblich zwar nicht ihre äußere Form, wohl aber ihre Persönlichkeit zu Persönlichkeiten 17. Rifkin versteigt sich gar zu der Formulierung:
“Ein neuer menschlicher Archetyp wird gerade geboren. Einen Teil des Lebens bequem in virtuellen Welten des Cyberspace verbringend, vertraut mit den Funktionsweisen einer vernetzten Wirtschaft, weniger daran interessiert, Dinge zu sammeln als daran, aufregende und unterhaltsame Erfahrungen zu machen, fähig, simultan in parallelen Welten zu interagieren, rasch dabei, die eigene Persönlichkeit zu ändern, um sie irgendeiner neuen Realität, die ihnen – ob simuliert oder echt – begegnet, anzupassen …” 18
Große Worte, in der Tat. Dem angeblich so großen Neuen kann man analytisch-theoretisch und empirisch zu Leibe rücken.
Der proteische Mensch ist, glaubt man Rifkin, souverän. Angelehnt an Freud’sche Kategorien formuliert: Er besitzt “Iche-Stärken”. Ich-Stärke kann er nicht haben, denn er hat keine Persönlichkeit mehr, wohl aber Persönlichkeiten. Für Menschen ist es nicht leicht, angesichts der widerstreitenden Forderungen von “Es” und “Über-Ich” überhaupt ein angemessen starkes “Ich” auszubilden – nun soll dieser Prozess auf einmal multifunktional ein Kinderspiel sein? Die traditionelle Soziologie kennt den Begriff der Rollenambiguität – in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft muss der Mensch sein Handeln, seine Rolle gemäß seiner Position modifizieren. Schon diese Anforderung überfordert die meisten Menschen – woher soll also die Fähigkeit zur Ausbildung multipler Persönlichleiten kommen? Eine Mutation ist jedenfalls nicht in Sicht…
Betrachtet man den real existierenden Menschen, zum Beispiel in Dehland, so stellt man Folgendes fest:
- er hat überwiegend Angst um seinen Arbeitsplatz oder ist arbeitslos
- er hat keine Zeit, sich bequem in den virtuellen Welten des Cyberspace zu tummeln, oder er hat keinen Internetzugang. Wenn er sich einloggt, ist das häufigste Suchwort “Sex” – das ist nicht gerade ein Beweis für Bequemlichkeit und Souveränität.
- Er sieht intensiv und viel zu lange fern und lässt sich von geschauspielerten Pseudopersönlichkeiten gefangen nehmen, die mit der Realität und ihm selbst nichts zu tun haben, obwohl er sich mit ihnen identifiziert
- Er versteht nichts von der Wirtschaft und deren Funktionsmechanismen
- er will selbstverständlich aufregende und unterhaltsame Erfahrungen machen (Ist das eigentlich “selbst verständlich”?), landet aber im Urlaub, so er sich diesen leisten kann, auf Mallorca oder in der Dominikanischen Republik – all inclusive, selbstverständlich, und ist dort auf sich selbst zurückgeworfen.
- Seine eigene Persönlichkeit, falls vorhanden, ändert er mitnichten, weil er froh ist, wenigstens etwas zu haben, woran er sich festhalten kann.
Der proteische Mensch, vielleicht gedacht als innengeleitetes Individuum 19 , ist eine schöne Idee, die aber weder der gesellschaftlichen Realität noch den in ihr zum Leben gezwungenen Menschen gerecht wird.
Nachbemerkung
- Qed.
- Ich erspare mir dieses Mal ein Fazit – es wäre zu deprimierend, weil es den bisherigen aufs Haar gliche. Allerdings ist es mir ein Anliegen, meiner abgrundtiefen Enttäuschung darüber Ausdruck zu verleihen, dass etliche Menschen, denen noch nicht einmal ich die prinzipielle Fähigkeit zum Denken absprechen will, ihre geistigen Kapazitäten darin erschöpfen, angebliche neue Epochen zu erfinden, anstatt ihr Gehirnschmalz darauf zu verwenden, über die Rettung unseres Planeten nachzudenken, was überfällig, wenn nicht bereits zu spät ist, jedenfalls aus bärischer wie menschlicher Perspektive betrachtet.
- Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich diesmal (fast) ernsthaft war.
- Falls Jeremy Rifkin meine bescheidenen Anmerkungen lesen und sich ärgern sollte, würde ich mich freuen, aber ich weiß, dass er nicht Deutsch kann.
- Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.
Wenn Sie sie Maus kurz über einer Fußnote stehen lassen, erscheint der Text. Falls das nicht klappt: hier sind noch einmal alle Fußnoten im Zusammenhang:
- Ich bitte um Entschuldigung. Natürlich bediene ich mich eines gängigen Zitats, aber das ist unumgänglich. In dem Fall, den wir zu untersuchen haben, handelt es sich tatsächlich um ein Gespenst.
- Falls ich übersehen haben sollte, dass es auch philosophisch dilettierende Frauen gibt, die dem Phänomen des proteischen Menschen nachjagen, dann möge man mir Kenntnis davon geben – meine email-Adresse ist bekannt (kulle@baerdel.de).
- Der Glaube an den proteischen Menschen affiziert dagegen eher das Gehirn.
- Ich verweise hier nur auf die Riesenschildkröte in: Goethe, “Faust. Der Tragödie zweiter Teil“ und auf den ägyptischen König Proteus in Euripides’ “Helena“.
- Diese Meinung vertritt Amitai Etzoni, was ich für völligen Unsinn halte. Entweder hat die Moderne die faschistische Barbarei verdaut und überstanden, oder sie hat mit deren Beginn geendet.
- http://www.wikipedi.org
- Mehr dazu bei Karl Marx.
- Das wird, was unmittelbar einleuchtet, erst eine kommunistisch-anarchisch organisierte Assoziation freier Produzenten leisten können.
- Vgl. Max Weber
- vgl. Jeremy Rifkin, Access, Frankfurt 2000, S. 256, 260
- nach Angaben von Rifkin aus: Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, Frankfurt/Berlin 1990, S. 40
- vgl. Rifkin, ebd., S. 261
- Goethe, Faust II, V. 6791f
- vgl. Rifkin, ebd., S. 183. Im Übrigen wäre zu klären, was Kapitalismus mit Kultur zu tun hat, aber das ist schon wieder ein anderes Thema.
- Vgl. ebd., S. 263
- Vgl. ebd., S. 252
- vgl. ebd., S. 283
- ebd., S. 250
- vgl. David Riesman, The Lonely Crowd, New York 1950