Bärdel lag auf dem Bauch und träumte von Tumu. Das wußte nur er. Er schnarchte leise. Das wußte er nicht, aber Manfred lauschte dem regelmäßigen Schnarchen. Er war geduldig, mehr als eine halbe Stunde lang. Dann hatte er genug. Schließlich war jetzt die Stunde des Denkens, da konnte sein Vater doch nicht einfach pennen!
“Papa!”
Bärdels Brummen klang wie ein sehr uncharmantes Grunzen, aber Manfred ließ sich nicht irritieren. Ganz im Gegenteil.
“Papa!”
Das klang schon wesentlich energischer, aber Manfred hatte kein schlechtes Gewissen. Ein junger Bär kannte sein Recht auf Bildung und nahm es wahr. Der Erfolg gab ihm Recht: Bärdel wurde allmählich wach.
“Hmmm,” machte er. Zwar klang das noch äußerst unverbindlich, dennoch glaubte Manfred gewonnen zu haben. Also setzte er zum dritten Mal an.
“Papa, woher kommen wir eigentlich?”
“Was für eine bescheuerte Frage!”
Bärdel schickte sich an, sich tiefer in die gemütliche Grasmulde zu kuscheln, die er sich für sein Nickerchen zurechtgewühlt hatte. Dennoch fühlte er sich bemüßigt, seinem Sohn ein Minimum an Antwort zuteil werden zu lassen.
“Vielleicht aus den Karpaten oder den Alpen. Möglicherweise auch aus den Pyrenäen. Höchstwahrscheinlich nicht aus Skandinavien. Ich friere nämlich ziemlich leicht.”
Überlegen schüttelte Manfred den Kopf, was Bärdel zum Glück nicht sah, weil er sein Gesicht wieder im Gras begraben hatte. Die Wanderungsbewegungen des europäischen Braunbären in den letzten Jahrhunderten konnte man in jedem Biologiebuch nachlesen. Diese Werke waren ziemlich korrekt, soweit er das beurteilen konnte. Allerdings wußten sie nicht, daß die bedrohte Spezies, von der einige Exemplare soeben in den Pyrenäen versuchsweise ausgewildert wurden, mitten in Dehland ein verstecktes Refugium gefunden hatte.
“Ich meine die Frage nicht geographisch. Ich meine sie geschichtlich.”
Das wirkte offensichtlich, denn Bärdel setzte sich ruckartig auf.
“Wie meinst du die Frage?” wollte er wissen.
“Geschichtlich. Ich will wissen, was für eine Geschichte wir Bären haben. Davon ist in den Menschenbüchern nichts zu lesen.”
Jetzt saß Bärdel so kerzengerade, wie ein denkender Bär nur sitzen kann. Lange Zeit schwieg er, und Manfred wartete geduldig. Endlich sagte er:
“Ich glaube, wir haben keine Geschichte.”
Manfred erschrak: “Das ist ja furchtbar!”
Er war so aufgebracht, daß er aufstand und wahllos ein paar Brombeerblüten von ihren Zweigen riß, ohne daran zu denken, daß ihm die Früchte in ein paar Wochen fehlen würden.
Bärdel dagegen blieb ganz ruhig.
“Warum ist das furchtbar?”
“Weil ich in allen Geschichtsbüchern der Menschen gelesen habe, daß man aus der Geschichte lernen soll. Aber wenn du Recht hast und wir keine Geschichte haben, dann können wir ja nichts lernen!”
Wie häufig bei schwierigen Diskussionen wünschte Bärdel sich Kulle herbei, aber der war nun mal nicht da, und er sagte sich: Selbst ist der Bär!
Er griff sich zwei Fallkirschen, die die Stare nur leicht malträtiert hatten, bot Manfred eine an und fragte scheinbar leichthin: “Was ist eigentlich Geschichte?”
So einfach ließ Manfred sich nicht einschüchtern.
“Geschichte”, sagte er so selbstverständlich, als hätte er die Definition selbst gefunden, “Geschichte ist das, was in Raum und Zeit geschehen ist, beziehungsweise die Erinnerung daran in mündlicher oder schriftlicher Form. Geschichte bezieht sich auf Gesellschaften, benennt ihre wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und geistigen Veränderungen.”
“Eine hervorragende Definition!”
Bärdel war mit seinem Sohn zufrieden und bot ihm eine weitere Kirsche an.
“Aber du hast mir Recht gegeben. Die Bärengesellschaft hat keine Veränderungen erlebt, soweit wir uns erinnern können. Unsere Vorfahren in den Karpaten oder den Pyrenäen hatten ihre Sippe genau wie wir, ernährten sich ähnlich, trafen sich abends, um zu spielen oder sich Märchen zu erzählen, in der Höhle, und hielten Winterschlaf. Insofern haben wir aus der Geschichte gelernt, ohne eine Geschichte zu haben – wir machen alles genau wie unsere Vorfahren.”
Unzufrieden schüttelte Manfred den Kopf.
“Aber was meinen dann die Menschen damit, wenn sie dauernd fordern, aus der Geschichte zu lernen?”
Weitere Kirschen waren nicht in Sicht, also beschloß Bärdel, daß sein Sohn die nächste Lektion ohne Versüßung schlucken mußte. Es tat ihm leid, denn das, was er zu sagen hatte, war besonders bitter.
“Worin besteht die Geschichte der Menschen?” Er ließ Manfred keine Zeit zur Antwort, sondern sprach sofort weiter. “Aus gewonnener oder verlorener Macht, nichts weiter. Wenn Menschen also aus der Geschichte lernen wollen” – er betonte jetzt jedes Wort – “dann wollen sie nichts anderes, als sich mit Hilfe historischer positiver oder negativer Vorbilder gute Vorbedingungen für ihre eigene Machtstellung schaffen.”
Darüber mußte Manfred eine Weile nachdenken. Er kannte sich relativ gut in der Menschengeschichte aus. Cäsar stürzt die römische res publica, Chlodwig schwingt sich zum fränkischen König auf, Henri IV. findet, daß Paris eine Messe wert ist, Ludwig XVI. wird geköpft, das Direktorium köpft Robespierre, Napoleon Bonaparte entmachtet das Direktorium … und so weiter, und so fort. Sein Vater schien Recht zu haben, aber er wehrte sich.
“Politisch – na gut. Aber was ist mit der Entwicklung der Schrift, der Literatur, der Malerei?
Jetzt wünschte sich Bärdel brennend weitere Kirschen herbei, um Manfred das Folgende wenigstens etwas zu versüßen. Aber es gab nun mal keine.
“Die Schrift war nach der Religion das zweite effektive Herrschaftsinstrument der Menschen – genutzt für Verwaltung und Kontrolle. Literatur – na ja. Entweder haben die gerade Herrschenden sie in ihren Dienst gestellt, oder die Schriftsteller wurden toleriert, eben weil sie Schriftsteller waren. Wer schreibt, wirft keine Bomben. Aufsässige Dichter haben außerdem aus Sicht der Herrschenden angenehme Eigenschaften: Sie sterben früh, begehen Selbstmord oder werden, wenn das nicht klappt, verrückt – denk an Büchner, Kleist oder Hölderlin. Was wolltest du noch? Malerei? Die Kunst geht nach Brot – Malerei in der Menschheitsgeschichte ist überwiegend schmeichelnde Hofmalerei. Und wenn das jemand nicht mitgemacht hat, wie zum Beispiel Vincent van Gogh, dann konnte er sich halt ein Ohr abschneiden, ohne daß ein Hahn danach gekräht hat.”
Das reichte erstmal, fand Bärdel.
“Gut”, sagte Manfred. “Oder auch nicht gut. Die Menschen lernen nichts aus ihrer Geschichte, weil sie nur Schlechtes lernen, wenn überhaupt etwas, und wir Bären können nichts aus unserer Geschichte lernen, weil wir im Sinn der Geschichtsdefinition keine haben. Folgerichtig ist meine Ausgangsfrage unsinnig. Richtig?”
“Richtig!” bestätigte Bärdel. Er hoffte, jetzt weiterdösen zu können, aber da er seinen Sohn kannte, fragte er vorsichtshalber noch einmal nach.
“Hast du sonst noch Fragen?”
Manfred nickte.
“Ja, Papa. Wohin gehen wir?”
Irritiert schüttelte Bärdel den Kopf.
“Was soll das denn nun?”
“Papa”, erklärte Manfred geduldig, “seit ich denken kann, sind wir in Bärenleben nicht allein. Wir haben mit den Menschen zu tun. Wir lernen von ihnen, wir tricksen sie aus. Wir benutzen ihr Wissen, ihre Bücher. All das tun wir, um weiter in Bärenleben existieren zu können. In gewisser Weise kämpfen wir also auch um die Macht. Wir sind in die Geschichte eingetreten. Ist es nicht so?”
“Oh Gott”, sagte Bärdel, aber er verbesserte sich sofort: “Oh Tussi!”
Dann vergrub er sich in sein Grasbett. Ein mitleidiger Star, der keine Ahnung von Geschichte hatte, ließ eine Kirsche neben seinem Kopf niederpurzeln, und Bärdel griff dankbar blind danach und aß sie auf.