„Kinder, insbesondere attraktive, wohlerzogene junge Damen, sollten niemals mit Fremden reden, da sie in diesem Fall sehr wohl die Mahlzeit für einen Wolf abgeben könnten. Ich sage „Wolf“, aber es gibt da verschiedene Arten von Wölfen. Da gibt es solche, die auf charmante, ruhige, höfliche, bescheidene, gefällige und herzliche Art jungen Frauen zu Hause und auf der Straße hinterherlaufen. Und unglückseligerweise sind es gerade diese Wölfe, welche die gefährlichsten von allen sind.“
Charles Perrault (1628 – 1703, Schriftsteller, Verfasser von Märchen, u.a. ‚Le Petit chaperon rouge‘)
Hi, hier bin ich wieder. Wenn ihr noch zur Schule geht wie ich, dann habe ich einen heißen Tipp, wie ihr helfen könnt, die Wolfsakzeptanz zu erhöhen. Oder müsst Ihr etwa keine Referate halten? Das Wolfsthema geht in vielen Fächern: Bio natürlich, aber auch Powi und Deutsch. Ihr müsst nur zugreifen, wenn ihr so ein Angebot bekommt, oder selbst ein Angebot machen. Die wirtschaftlichen Folgen der Wiederansiedelung des Wolfs, der Wolf in der Literatur…es wird sich was finden. Ich war gestern in Bio dran. Das Thema war neutral: ‚Der Wolf in Niedersachsen. Bedrohung oder Rückkehr zur Normalität?’ Ihr könnt Euch denken, was ich draus gemacht habe. Ich will hier nicht die ganzen Argumente für den Wolf wiederholen, ihr kennt das ja alles. Nur so viel: Die Info, dass Nutztierrisse nur ein bis zwei Prozent der erbeuteten Biomasse darstellen, also die Ausnahme sind, hat meine Klasse überrascht. Dass mehr als 50% der Hauptnahrung des Wolfes Rehe sind, habe ich meinen Mitschülern aber nicht auf die Nase gebunden. Sie haben zum Glück auch nicht nachgefragt.Ausführlich eingegangen bin ich auf die Forderung, den Wolf zu bejagen. Da der Wolf ein Langstreckenwanderer ist, würden zuwandernde Wölfe die nach dem Abschuss entstandene Lücke höchst wahrscheinlich schließen und Nutztiere, die nicht ausreichend geschützt sind, als leichte Beute nutzen. Wölfe lernen durch Bejagung nicht, Abstand zu Weidetieren zu halten, sie erkennen nicht den Zusammenhang zwischen Schafsrissen und Erschossenwerden. Daher sind Herdenschutzmaßnahmen in Wolfsgebieten unbedingt erforderlich und können durch eine Bejagung keinesfalls ersetzt werden.Am Schluss habe ich abstimmen lassen. Na klar – der Wolf gehört zu uns, er soll bleiben. Wenn Ihr wollt, kann ich Euch meine PPP zur Verfügung stellen.
Sie freute sich über etliche positive Rückmeldungen von anderen jungen Mitgliedern des Nabu. Die meisten der jungen Leute, die sich für die Natur engagierten, waren auf Insta aktiv. Wenn sie nicht selbst posteten, verfolgten sie zumindest die aktuellen News. Gerade erhitzten Forderungen des Landvolks Niedersachsen die Gemüter: Es sollte ein aktives Wolfsmanagement geben, so nannten sie das. Eine andere Formulierung war: gezielte letale Entnahme von übergriffigen Wölfen. Was im Klartext hieß, der Wolf sollte verdrängt werden, damit die Bauern für ihre Weidetiere keine Schutzmaßnahmen zu ergreifen brauchten und damit die Jäger fröhlich weiter Wild erschießen konnten: Ohne den Wolf gab es davon mehr als genug, und es schädigte den Wald durch Verbiss.
Ihr kam die Idee, eine Diskussion mit der Landjugend zu initiieren. Der Verband war wie sie selbst natürlich auch auf allen wichtigen Social-media Kanälen vertreten. Mal sehen, was sich da machen ließ.
Jetzt aber war sie noch damit beschäftigt, die Reaktionen auf ihren aktuellen Post zu checken. Eine Nachricht fiel deutlich aus dem Rahmen.
Halloh!
Ich habe dein Bericht von dem Refrat sehr bewundet. Ich will das auch können. Aber ich weiß nicht was das ist eine PPP. Vieleicht kannst du mir helfen.
Ich gehe in Schöningen zur Eichendorfschule. In die 8. Klasse. Ich bin 15. Ich schicke dir ein Foto von mir.
Das Foto zeigte das Gesicht eines Jungen mit blonden Wuschellocken und blauen Augen. Am Hals zeichnete sich ein kleiner Adamsapfel ab. Die Haut war klar ohne die häufige Pubertätsakne. Hübscher Knabe, fand sie. Der brauchte unbedingt Nachhilfe. In mancherlei Hinsicht. Aber immerhin hatte so einer den Weg in die Naju gefunden. Das war beachtlich. Die Eichendorffschule in Schöningen war eine Hauptschule, eine der letzten ihrer Art. Wer heutzutage auf so einer Schule landete, der hatte nicht allzu viele Chancen vor sich. Aber sie würde sich um ihn kümmern.
Hi, Du siehst gut aus. Was kann ich für dich tun? Willst Du auch ein Referat halten? In welchem Fach? Über welches Thema?
Halloh, Bei uns gibt es nicht so viele Fächer. Ja, ich will ein Refrat halten. Über die Wolffamilie. Hast du eine Familie?
Klar habe ich eine Familie – meine Eltern und meinen ätzenden kleinen Bruder. Was weißt Du über die Wolffamilie?
Nichts
Beim Wolf spricht man nicht von einer Familie, sondern von einem Rudel. Das Rudel ähnelt aber einer menschlichen Kleinfamilie: Es gibt ein Elternpaar, das meist lebenslang zusammenlebt und gemeinsam ein Revier besetzt. Darin dulden sie außer ihrem eigenen Nachwuchs keine anderen Wölfe. In der Regel bringt eine Wölfin jedes Jahr drei bis acht Welpen zur Welt. Die Welpen des Vorjahres nennt man Jährlinge – das sind gewissermaßen die Jugendlichen der Familie. Meist werden die Jährlinge mit zehn bis 22 Monaten geschlechtsreif und wandern auf der Suche nach einem eigenen Revier und eigenem Partner ab.
Das ist schön. Ein Paar lebt immer zusammen. Das möchte ich. Möchtest du das auch
Vielleicht. Wenn er der Richtige ist.
Möchtest du auch Kinder
Vielleicht. Aber wollten wir nicht über Wölfe reden?
Ja. Wer bestimmt in der Wolfsfamilie
Die Fähe. Also: die Wölfin.
Möchtest du in deiner Familie auch bestimmen?
Was soll das jetzt wieder? Reden wir über dein Referat.
Ja, mein Refrat. Kannst du mir dabei helfen?
Ich kann’s versuchen. Worum soll es denn gehen? Um das Sozialleben der Wölfe? Oder um einen Vergleich von Wolfsfamilie und Menschenfamilie?
Genau.
Das verstehe ich jetzt nicht. Das sind doch zwei ganz verschiedene Themen.
Siehst du, ich bin dumm.
Quatsch, du bist überhaupt nicht dumm. Aber zuerst müssen wir mal das Thema eingrenzen.
Grenzen?
Definieren. Willst du bei deinem Referat auch Bilder zeigen? Fotos? Filme?
Bilder sind gut
Hast du Bilder?
Nein
Ich kann dir welche schicken. Von Wolfsrudeln.
Wolfsrudeln?
Wolfsfamilien.
Ach ja Entschuldigung
Wann willst du dein Referat halten?
Bald Was ist ein PPP
Eine Power Point Präsentation. Das ist eine besondere Technik. Aber das muss man nicht machen. Man kann auch ohne PPP über Wölfe informieren.
Willst du mir helfen
Klar.
Kannst du kommen
Wohin?
Zu mir nach Schöningen
Es ist mir lieber, wenn du zu mir kommst.
Wo ist das
In Helmstedt.
Wo in Helmstedt
In meiner Schule.
Welche Schule
Am Bötschenberg.
Das Gimnasyum oben auf dem Berg
Genau. Weiß du, wie man da hinkommt?
Ja Torweg Roter Torweg. Ich fahre Rad.
Dann treffen wir uns morgen Nachmittag. Ich bin nach der 10. Stunde fertig. 20 nach 4. Passt dir das?
Das passt gut Wo
Bei dem kleinen Amphitheater.
???
Ein Halbkreis aus Steinen mit ein paar Stufen. Eine Klasse kann da sitzen und Unterricht im Freien haben. Oder man kann etwas aufführen.
Das hat meine Schule nicht
Ist auch überflüssig. Da ist in der Regel niemand, schon gar nicht nach der 10. Stunde. Wir können da in Ruhe dein Referat planen.
Ich freue mich
Der Mann war mit dem Auto aus Schöningen gekommen. Er war älter als 40. Das dünne blonde Haar war schütter und von rechts nach links gekämmt, um die Glatze zu kaschieren. Er war schlecht rasiert. Die grobporige zu große Nase dominierte das Gesicht. Die kleinen Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen, um besser sehen zu können. Seine Größe ließ sich schlecht schätzen, denn er saß auf einer niedrigen verwitterten Holzbank, die aus ein paar Eisenbahnschwellen zusammengezimmert worden war. Dass er einen Bauch hatte, ließ sich nicht übersehen.
Er saß schon lange hier, die Ungeduld hatte ihn hergetrieben. Das kleine Amphitheater vor ihm, halb verdeckt von einer Robinie und einer buschigen Buche, blieb lange verwaist. Endlich kam sie, sah sich suchend um, wohl nach einem Teen mit einem Fahrrad, zuckte dann die Schultern und setzte sich mit dem Rücken zu ihm auf eine der Stufen. Aus ihrem Rucksack kramte sie ein Tablet und Papiere und fing an zu lesen.
Er schwitzte am ganzen Körper. Auch seine Hände waren glitschig von Schweiß. Aber den starken Metalldraht mit den beiden Griffen hielt er fest und sicher.
Er stand auf und pirschte sich lautlos an.
Mai 2024