Sie
Der Typ stalkt mich. Seit Jahren macht er das. Oder ist das kein Stalking, wenn man sich jeden Tag sieht? Wir sehen uns jeden Tag, außer in den Ferien und wenn einer von uns krank ist oder krank zu sein behauptet. Wir gehen bis zum Abitur in dieselbe Klasse in derselben Schule.
Wahrscheinlich meint er es nicht mal böse, aber er nervt. Er glaubt, er muss mich beschützen. Er hat mich schon mal beschützt, das denkt er jedenfalls. Da waren wir beide in der fünften Klasse. Und seitdem werde ich ihn nicht mehr los.
In der Grundschule waren in meiner Klasse nur 18 Kinder, und nach dem Wechsel zum Gymnasium waren es ungefähr doppelt so viele. Wie sollte man da lernen können?
Ich saß in der ersten Reihe neben meiner besten Freundin und war fest entschlossen, immer gut aufzupassen, aber das war nicht leicht. Sobald der Lehrer in Mathe oder die Lehrerin in Deutsch sich zur Tafel wendete und etwas anschrieb, flogen Papierkügelchen in mein Haar.
Er
Sie hasst mich. Vielleicht hasst sie mich noch nicht mal, denn sie gibt mir immer das Gefühl, dass ich gar nicht da bin. Wen man hasst, den nimmt man wenigstens wahr.
Schon am ersten Tag in der neuen Schule fand ich sie klasse. Wir waren 20 Mädchen und 15 Jungen in der 5a im Gymnasium. Viel zu viele Kinder, viel mehr als in der Grundschule, aber wir Jungen konnten uns die Mädchen aussuchen. Dachte ich. Auf drei Jungen kamen vier Mädchen, soviel rechnen konnte ich.
Aber sie ließ mich nicht an sich ran. Schon die Sitzordnung bremste mich aus. Der Klassenlehrerdrachen kannte keine Diskussion: Die Mädchen saßen vorne, die Jungen hinten. Also waren die Mädchen in den vorderen Reihen brav und passten auf, und wir machten hinten Quatsch und lernten wenig.
Papierflieger basteln und mitten in der Sunde lossegeln lassen, wenn der Lehrer was an die Tafel schrieb, das wurde zu unserer beliebtesten Mutprobe. Man durfte sich nicht erwischen lassen, und wessen Flieger am weitesten kam, der hatte gewonnen. Und wer es sogar wagte, seine Segler aus Arbeitsblättern herzustellen, statt damit zu lernen, war in unseren Augen König der Klasse.
Ich habe lieber meine Prinzessin mit Papierkugeln beworfen. Für mich habe ich sie immer Prinzessin genannt. Die Kügelchen waren aus kleinen Zetteln gemacht, die ich vorher beschriftet hatte. Kleine Liebesbriefe habe ich geschrieben. Sehnsuchtsbriefe. Dass ich sie gerne treffen möchte. Sie zu einem Eis einladen oder zu einer Cola. Dass ich sie zu Hause besuchen möchte. Dass sie mich in ihr Zimmer einlädt. Dass wir knutschen. Die Zettel habe ich so zerrissen, dass man die Texte kaum noch lesen konnte. Es wäre mir peinlich gewesen, wenn sie mitgekriegt hätte, was ich geschrieben habe. Aber natürlich hat sie nicht im Traum daran gedacht, meine Liebesgeschosse aufzudröseln. Sie hat sie aus ihren Haaren rausgepult und auf den Boden geworfen. Und sie hat sich wütend umgesehen.
Ich glaube nicht, dass sie gemerkt hat, dass ich sie geärgert habe. Sie hat alle Jungen der Reihe nach angestarrt. Als ich dran war, bin ich mit meinem Stuhl voll nach hinten gekracht. Natürlich haben wir Jungen alle gekippelt, obwohl das streng verboten war: Mobiliar schonen und so. Wer cool war, kippte dabei auch nicht um. Aber wenn einen so ein Granatenblick trifft…
In den Stunden also: keine Chance. Auch nicht in den Pausen. Da steckten die Mädchen auf dem Hof in Gruppen die Köpfe zusammen und kicherten, während wir Jungen wie die Blöden um eine Tischtennisplatte hetzten. Jeder hatte einen Schlag. Wer patzte, war raus. Wer übrig blieb, war Champion. Bis zur nächsten großen Pause.
Deshalb habe ich mich auf den Wandertag gefreut. Ja. Wirklich. Trotz des schrecklichen Namens: Wandertag. Natürlich hat unser Klassenlehrerdrachen das mit dem Wandern wörtlich genommen. Sie hat gelächelt, aber gequält, als sie uns erklärt hat, dass wir auf diesen Tag Anspruch hätten. Er diene der Stärkung der Klassengemeinschaft.
Aha, dachte ich. Klassengemeinschaft ist also, wenn die Mädchen vorne sitzen und die Jungen hinten und möglichst wenig miteinander zu tun haben? Und das soll gestärkt werden?
Natürlich bestimmte der Drachen, wo es lang ging. Wir würden mit der Bahn in eine Stadt fahren und dann nochmal mit der Bahn in irgend ein Kaff, und von da aus zu Fuß zu irgend welchen Klippen. Dort würden wir rasten und picknicken, bevor alles auf demselben Weg zurück nach Hause ging. Was wir alles mitbringen müssten. Wann wir uns wo treffen.
Ich habe kaum zugehört. Das einzig wichtige war der Treffpunkt. Den wollte ich auf keinen Fall verpassen.
Meist kam ich auf den letzten Drücker zur Schule, manchmal auch zu spät, aber an dem Tag war ich mindestens eine Viertelstunde zu früh am Bahnhof. Wer nicht kam, war sie. Sie tauchte erst in der letzten Minute auf und wurde natürlich sofort von ihren Freundinnen in die Mitte genommen.
Der Klassenlehrerdrachen hatte Sitzplätze reserviert: 20 in einem Waggon, 16 in einem anderen. Das verkündete sie, als wir auf dem Bahnsteig standen. Es war dann keine Überraschung, wo die Mädchen und wo die Jungen sich wiederfanden. Und wo der Klassenlehrerdrachen saß.
In dem zweiten Zug gab es keine reservierten Plätze mehr. Wir stiegen ein und setzten uns, wo frei war. Ich verlor meine Prinzessin wieder aus den Augen.
Dann kam der Wanderteil des Wandertages. Die Mädchen taten so, als würden sie gerne durch Pfützen und über Wurzeln bergauf steigen. Vielleicht machte es ihnen tatsächlich Spaß. Sie sangen sogar dazu: ‚Ein belegtes Brot mit Schinken, ein belegtes Brot mit Ei…‘ Woher kannten sie bloß einen so bescheuerten Text?
Wir Jungen schlenderten cool hinterher und fanden die ganze Veranstaltung doof. Bis wir an die Klippen kamen – ja, das war schon was, das mussten wir zugeben. Schroffe Felsplatten, übereinander gekippt, ineinander verschachtelt. Hoch in den Himmel. Natürlich wollten wir da raufklettern. Natürlich verbot das der Klassenlehrerdrachen, kaum dass wir angekommen waren.
Ich weiß nicht, warum wir gehorchten. Vielleicht dachten wir an unsere miserablen Leistungen in der Schule und dass wir uns keinen Ärger einhandeln durften. Brav hockten wir uns hin und packten unsere Äpfel und hartgekochten Eier und Thermosflaschen aus.
Dann hörten wir den Schrei.
„Hilfe!“
Sie stand da ganz oben. Ich hätte ihr unter die Röcke gucken können, wenn sie keine Hosen angehabt hätte. Die nächste Trittmöglichkeit für den Abstieg war weit unten, wie weit, war schwer zu schätzen, ich hatte einen ungünstigen Blickwinkel. Sie stand da und schwankte leicht. Ihre Füße standen zu nahe beieinander, das konnte ich sehen. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen. Niemand traute sich, sich zu bewegen außer mir.
Ich hätte jetzt rufen können: „Ich komme! Halt still! Beweg Dich nicht!“ Aber das war mir zu doof. Ich fing einfach an zu klettern.
Nach ein paar Minuten hatte ich sie unten in Sicherheit.
Sie
Dann kam dieser Wandertag. Ich gebe es ja zu: ich war viel zu leichtsinnig. In Sport bin ich nun mal gut, und ich hatte einen Riesenspaß daran, in Nullkommanix oben auf den Klippen zu sein. Dummerweise hatte ich mir den Weg hinauf nicht gemerkt, und beim Klettern ist es abwärts immer schwieriger als aufwärts. Wahrscheinlich wäre nichts passiert, wenn ich den Nerv gehabt hätte, in Ruhe nachzudenken. Stattdessen habe ich um Hilfe gerufen wie eine hysterische Zicke aus dem Bilderbuch.
Ich hab es kaum glauben können: Er kam sofort angedüst. Dabei ist er überhaupt nicht der sportliche Typ. Eher eine Art Watschelente. Oder ein Frosch. Ein dicker, behäbiger Ochsenfrosch. Und er hat meine Hand gegriffen, ganz fest, als sei das selbstverständlich, und hat mich sicher runtergelotst.
Unten wurde ich nicht rundgemacht, wie ich es erwartet hatte. Alle konzentrierten sich auf meinen Retter. Meine Freundinnen und die Klassenlehrerin überschütteten den Frosch mit Lob. Die anderen Jungs pfiffen anerkennend, und er wurde ganz puterrot.
Ich versuchte, mich für den Rest der Veranstaltung unsichtbar zu machen, was mir aber nicht gelang. Mein Vater holte mich nämlich vom Bahnhof ab, und natürlich bekam er brühwarm aufgetischt, was bei den Klippen passiert war. Spätestens jetzt, dachte ich, blüht mir Böses. Aber Papa nahm mich nur sanft in einen Arm. Mit dem anderen umhalste er den Frosch und drückte ihn kräftig.
„Junge,“ sagte er gerührt, „was auch immer Du Dir von meiner Tochter wünschst, Du sollst es bekommen. Meine Tochter will das auch.“
Was blieb mir anderes übrig, als ja zu sagen?
Seitdem habe ich den hässlichen Kerl an der Backe.
Wir sind beide seit dem Wandertag in der fünften Klasse nicht hübscher geworden, klar. Die Pubertät hat uns erwischt, und die ist nun mal ein Schönheitsvernichtungsprogramm. Mein Arsch ist gewachsen und ist viel zu dick, meine Brüste nerven und sind lästig beim Joggen, wenn ich meine Tage habe, kann ich mich selber nicht riechen. Die Haare werden schneller fettig, als ich sie waschen kann, und Fett ist überall auf der Haut. Manchmal habe ich das Gefühl, nur noch aus Pickeln zu bestehen.
Aber das ist alles nichts gegen ihn. Er ist die personifizierte Akne. Er besteht nur noch aus Mitessern und Pickeln und Eiterpusteln. Nicht nur im Gesicht. Alle Menschen in der Pubertät haben Akne im Gesicht. Jedenfalls alle, die ich kenne. Er aber hat das Zeug, soweit ich sehen kann, am gesamten Oberkörper. Nicht, dass ich das sehen möchte. Aber er ist eben ständig in meiner Nähe.
Es ist nicht nur die Akne, die mich stört. Abgesehen davon, dass alles an ihm mich stört, dass er mich stört. Er ist gewachsen, natürlich. Breiter geworden in den Schultern. Nicht mehr dick und wabbelig, sondern kräftig. Und wenn ich auf seine Hose gucke, was ich nicht vermeiden kann, alle Frauen, glaube ich, gucken Männern zuerst auf die Hose, dann ist da immer diese Beule. Auch wenn er keine Erektion hat. Er muss einen Riesenschwanz haben.
Zugegeben, unsere Zwangsgemeinschaft hat auch praktische Seiten. Er kann besser Mathe und ich kann besser Deutsch, das entspricht dem klassischen Klischee, ist aber so. Wir helfen uns bei dem Schulkram. Aber natürlich reicht ihm das nicht.
Er will zusammen mit mir einen Tanzkurs machen – das mache ich auch, ich habe es ja versprochen.
Wir fahren gemeinsam auf eine Pfingstfreizeit der Naturfreundejugend in einem Zeltlager – ich hasse Camping, bei den Haarbüscheln im Gemeinschaftswaschraum muss ich kotzen, es regnet die ganze Zeit und ist saukalt, aber: Ich habe es versprochen.
Wir machen alle Referate und Präsentationen zusammen, bei denen der eine dem anderen helfen kann oder umgekehrt: Das ist gut für die Zensuren, nervt mich aber, weil wir viel Zeit zusammen verbringen müssen.
Er wird nach dem Abi mit dem Jahrgang zum Feiern an die Costa Brava fahren. Das werde ich natürlich auch, ich habe es versprochen.
Wenn ich mal etwas nicht will, stellt sich mein Vater quer: Versprochen ist versprochen, heißt es dann. Du schuldest ihm das. Verdammt! Manchmal habe ich das Gefühl, der Alte will mich verkuppeln.
Er
Sie ist da. Jeden Tag. Direkt neben mir. Und trotzdem meilenweit entfernt. Ich glaube, sie hasst mich.
Das dürfte bald vorbei sein. Die Schule ist vorbei. Wir haben die Abi-Prüfungen bestanden, haben einen Abi-Scherz organisiert, der unseren ehemaligen Mitschülern zu viel Unterrichtsausfall verholfen hat, wie sich das gehört, und bald werden wir auseinanderlaufen – studieren, eine Ausbildung anfangen, eine Auszeit nehmen.
Aber vorher ist da noch die Abschlussfahrt unseres Jahrgangs. Wir haben abgestimmt, und das Ergebnis ist nicht überraschend: Es geht nach Lloret de Mar. Die meisten haben gedacht, das ist bei Barcelona. Falsch, Barcelona ist 75 Kilometer weit weg im Südwesten. Aber das hat letztlich kaum jemanden interessiert: Wir wollen ein paar Tage lang saufen, feiern, Drogen einwerfen und Sex haben, und wenn dann noch Zeit bleibt, am Strand liegen oder shoppen.
Im Sommer ist Lloret ein absoluter Partyhotspot. Hunderttausende von jungen Menschen kommen und wollen dasselbe wie wir.
Unser Reiseveranstalter verspricht all inclusive: jeden Tag kostenloser Eintritt in die angesagteste Disco, Partyguides, Party-Warm-Up-Programme, Mottoparties und alkoholische Getränke von 11–23 Uhr. Daneben sind Kicker, Darts, Billard und Playstations schon fast Kinderkram.
Wäre doch gelacht, wenn ich meine Prinzessin dort nicht in mich verliebt machen könnte. Oder, wenn das nicht klappt, sie wenigstens flachlegen.
Sie
Er soll es nur nicht wagen, mich anzufassen! Einmal ist genug, damals auf den Klippen. Das reicht für ein ganzes Leben.
Wenn ich ihn jetzt nicht loswerde, auf dieser Fahrt, wird er mich weiter verfolgen und weiter und weiter. Und mein Vater wird die ewige Leier wiederholen: Du hast es versprochen.
Gestern, am ersten Abend in der Disco, war es fast schon so weit. Er tanzte auf mich zu mit seinem Frosch-Watschelgang, aber dann rockte eine ausgelassene Horde von besoffenen Briten zwischen uns und trennte uns. Danach war es plötzlich so voll, dass man sich kaum noch bewegen konnte. Wenn ich da umgefallen wäre, hätte das vermutlich keiner bemerkt.
Eigentlich gefällt es mir hier nicht, auch unabhängig von ihm. In den Cocktails ist billiger Fusel, das schmeckt man und merkt es an den Kopfschmerzen am nächsten Tag. Und dauernd wird man angemacht, ob man irgendwelche Pillen einwerfen will. Ein Typ wollte mir sogar Liquid Ecstasy andrehen. Als ob ich jemanden vergewaltigen wollte!
Nach drei Tagen wusste ich, wie der Hase läuft.
Am letzten Abend trafen wir uns um Mitternacht und wurden schnell eingelassen, weil ich dem Typen von der Security schöne Augen machte. Wir fingen an zu tanzen, und ich tat so, als ob. Er hatte schnell zwei von seinen Gratisdrinks intus, ich knauserte dagegen mit meinen Gutscheinen. Er war begeistert, als ich anbot, ihm einen Cocktail auszugeben. Bevor ich zur Bar ging, verabredeten wir, wo ich ihn wiederfinden würde. Ich bugsierte ihn in die Ecke, in der in den letzten Nächten das größte Gedränge geherrscht hatte. Wie bei der Love Parade vor ein paar Jahren in Duisburg war es immer. Wenn hier jemand umfällt, dachte ich, merkt es kein Schwein. Wenn hier die Panik ausbricht, wirst Du einfach totgetrampelt.
Natürlich dauerte es eine Ewigkeit, bis ich meine Drinks in der Hand hatte. Mit meinem füllte ich sein Glas auf. Von den K.O.-Tropfen schüttete ich die vierfache Dosis rein und rührte mit dem kleinen Finger um. Dann machte ich mich auf den Weg zu ihm. Es war ganz schön schwierig, nichts zu verschütten, aber ich schaffte es.
Er trank gierig und sah mich gierig an. Bevor es auf der Tanzfläche zu eng wurde, konnte ich mich retten. Wenn eine Frau aufs Klo muss, gibt es dagegen keine Einwände.
Ich ging direkt in unsere Unterkunft und packte.
Als der Bus am nächsten Vormittag nach Norden aufbracht, war außer dem Busfahrer und mir niemand wach. Also bemerkte niemand außer mir, dass der Frosch fehlte. Ich hatte damit gerechnet.
Februar 2024