Lüge

Der Wolf träumt. Er träumt, dass er bei seinem Psychiater auf der Couch liegt und eine Analyse macht. Jetzt erzählt er, wann er gelogen hat.

„Ich war unterwegs im Wald, Es war Sommer, die Vögel sangen, die Blumen blühten. Aber es gab noch keine Beeren und keine Pilze. Das Grünzeug ist sowieso nicht mein Fall, es hätte mir wenig geholfen. Ich hatte nämlich Hunger.“

„Du hast so gut wie immer Hunger,“ sagt der Psychiater.

„Woher weißt Du das?“ will der Wolf wissen.

„Du bist ein Wolf, das liegt also auf der Hand.“

Der Wolf nickt. „Stimmt. Ich hatte Hunger wie immer. Da tauchte auf einmal ein Kind auf, ein Mädchen, eine süße Göre, mit einem Korb im Arm, darin war Essen und Trinken.“

„Das Kind hast Du also gefressen.“

„Nein, wieso, habe ich nicht.“

„Du hattest doch Hunger!“

„Aber ich habe das Kind nicht gefressen. Jedenfalls nicht gleich. Ich habe es ausgefragt. Ich wollte wissen, wohin es geht. Zur Großmutter, hat es erzählt, und die wohnt da und da. Und dann habe ich ihm gesagt, es soll noch ordentlich herumtrödeln im Sommerwald und viele Blumen für die Oma pflücken. Das hat es auch gemacht. Ein liebes Kind – brave Mädchen machen immer, was man ihnen sagt.“

„Du wolltest mir eigentlich erzählen, wann Du gelogen hast. Bis jetzt hast Du das Kind nur ausgefragt und aufgehalten.“

„Ich war dann schnell bei der alten Frau und habe an die Tür geklopft. Sie wollte wissen, wer da ist. ‚Rotkäppchen‘, habe ich gesagt, so hieß die Göre nämlich. Ich soll nur die Klinke herunterdrücken und reinkommen, hat sie geantwortet.“

„Du hast also gelogen, aber die Lüge war überflüssig. Das gilt nicht. Du hättest einfach nur die Tür aufmachen müssen. Wie ging es weiter?“

„Ich habe die Alte aufgefressen. Sie war ziemlich zäh, aber ich hatte Hunger, wie gesagt. Dann habe ich mir ihre Klamotten angezogen und mich in ihr Bett gelegt.“

„Und dann?“

„Dann kam endlich dieses Rotkäppchen. Ich kam dem Kind wohl irgendwie komisch vor, anders als seine Oma, denn es wollte wissen, warum ich große Ohren, Augen und Hände habe und auch ein großes Maul.“

„Was hast Du geantwortet?“

„Dass ich das Kind so besser hören, sehen, fassen und fressen kann.“

„Du hast also die reine Wahrheit gesagt.“

„Das stimmt,“ sagt der Wolf verblüfft. „Aber vorher habe ich doch gelogen, als ich mich für Rotkäppchen ausgegeben habe.“

„Wie gesagt: Das war überflüssig, hat nichts bewirkt und gilt deshalb nicht.“

„Ich habe also nichts falsch gemacht?“ Der Wolf will sichergehen.

„Jedenfalls nichts, was mit einer Lüge zu tun hat.“

Gut. Ich habe aber noch ein zweites Mal gelogen. Und ein drittes. Und sogar ein viertes.“

„Das musst Du mir erzählen.“

„Ich hatte…“

„Hunger. Ich weiß.“

„…und es gab in meiner Nähe eine Ziegenfamilie, die wohnte in einem Haus, nicht anders, als wären sie keine Tiere, sondern Menschen. Eine alleinerziehende Mutter mit sieben Kindern. Die Kleinen wollte ich erwischen, und als die Alte zum Einkaufen aus dem Haus war, habe ich geklingelt. Ich habe gesagt, ich bin ihre Mama, sie sollten aufmachen, weil ich schwere Tüten zu tragen habe und keine Hand frei. Aber ich habe mit meiner normalen tiefen Stimme gesprochen, und daran haben die Jungen die Lüge erkannt.

Natürlich habe ich nicht aufgegeben. In einem Laden für Schulbedarf habe ich Kreide gekauft und gefressen, das machte meine Stimme hoch. Damit startete ich meinen nächsten Versuch: Ich behauptete, ich bin die Ziegenmutter und habe allen Kindern ein Geschenk mitgebracht. Das war schon besser, aber auch diesmal habe ich einen Fehler gemacht: Die Kleinen guckten aus dem Fenster und konnten meine schwarzen Pfoten sehen.

Ich brauchte also nicht nur eine Ziegenstimme, sondern auch so etwas ähnliches wie Ziegenhufe. Um das zu schaffen, habe ich einen Bäcker angelogen. Dem habe ich gesagt, dass ich mir den Fuß gestoßen habe und er mir zur Linderung Teig darauf streichen soll. Anschließend bin ich zum Müller und wollte von ihm Mehl auf den Teig. Eine Begründung für diese Forderung ist mir nicht eingefallen. Prompt hat der Müller Lunte gerochen und wollte sich weigern. Als ich ihm angeboten habe, ihn zu fressen, hat er seine Weigerung dann schnell vergessen.

Und so kam ich schließlich beim dritten Versuch in die Ziegenwohnung und konnte endlich meinen Heißhunger stillen.“

„Bist Du fertig?“

„Ja, was die Lüge angeht. Die Geschichte geht natürlich noch weiter, aber das tut jetzt nichts zur Sache.“

„Gut,“ nickt der Psychiater. Sein Patient hört nur die Stimme, das Nicken kann er nicht sehen. Er liegt auf der Couch, der Arzt sitzt im Sessel hinter seinem Kopf. Die klassische Position.

„Beim ersten Mal hast Du gelogen. Die Lüge war notwendig, aber erfolglos. Beim zweiten Mal verhielt es sich ebenso.

Im dritten Anlauf hattest Du Erfolg. Auch die Drohung gegen den Müller hat offenbar ihren Zweck erfüllt.“

„Ich wusste es doch: Ich bin ein schlechter Wolf!“

„Keineswegs. Du bist ein guter Politiker!“

Der Wolf ist so verblüfft, dass er sich fast umgedreht hätte. Aber er erinnert sich an seine Rolle und bleibt liegen.

„Wieso? Wie meinst Du das?“ will er wissen.

„Du hast Dich als ein Meister der strategischen Kommunikation erwiesen. Du hast einen Prozess möglich gemacht, einen politischen Prozess.“

„Hä?“ sagt der Wolf. Und, um Höflichkeit bemüht, fügt er hinzu: „Das musst Du  mir bitte erklären.“

„Gerne. Was wolltest Du mit Deinen Lügen erreichen? Du wolltest den aktuellen Zustand im Ziegenhaushalt überwinden und zerstören. Dein Denken und Handeln war auf die Zukunft ausgerichtet. Ohne die Lügen hättest Du nicht handeln können. Deine Lügen waren pures Handeln. Du hast entschieden, wie es weitergehen soll, und dabei wären Tatsachen nur hinderlich gewesen. Stell Dir vor, was passiert wäre, wenn Du Dich als Wolf zu erkennen gegeben hättest! Jedenfalls hättest Du kein Festessen bekommen.

Du hast also gehandelt wie ein guter Politiker. Du wolltest Raum für neues Handeln gewinnen. Wahrhaftigkeit ist keine politische Tugend, weil sie wenig zu dem eigentlich politischen Geschäft, nämlich der Veränderung der Welt und der Umstände, unter denen wir leben, beizutragen hat.“

„Ich habe also alles richtig gemacht?“ fragt der Wolf.

„Ich denke schon. Ich erzähle Dir jetzt eine Geschichte, um zu prüfen, ob Du alles verstanden hast.

Es waren einmal ein Herr und ein Knecht, und der Herr war immer hungrig…“

„War der Herr vielleicht ein Wolf?“

„Das ist gut möglich. Der Herr befahl dem Knecht, ihm zu Nahrung zu verhelfen. Der Knecht führte seinen Herrn zu einem Schafzüchter, dem er ein frisch geschlachtetes Lamm stahl, das er seinem Herren vorsetzte. Der Herr aß das Tier, hatte aber noch nicht genug. Er stahl selbst ein zweites Lamm, wurde dabei erwischt und erbärmlich verprügelt. Was sagst Du dazu?“

„Bisher kann ich keine Lüge entdecken.“

„Richtig – es gab bisher auch keine.

Das Spiel wiederholte sich am nächsten Tag. Der Knecht baldowerte für seinen Herrn Pfannkuchen aus und stahl sie für ihn, dem war das Essen auch an diesem Abend nicht genug, er stahl seinerseits, stellte sich dabei wieder ungeschickt an und wurde geschlagen. Nun?“

„Das ist dasselbe wie am ersten Tag, nur mit Pfannkuchen statt mit Lammkeule.“

„Gut erkannt. 

Am dritten Tag schlichen sich der Knecht und sein hungriger Herr zusammen in einen Pökelkeller. Der Herr hatte darauf bestanden, dass sie zusammen einbrechen. Beide schlugen sich den Bauch voll. Allerdings achtete der Knecht darauf, dass er noch durch das Loch passte, durch das sie beide hereingeschlüpft waren. Immer wieder ging er dorthin und vergewisserte sich, dass er noch fliehen konnte. Das fiel dem Herrn auf, und er fragte nach dem Grund. ‚Ich muss doch sehen, ob niemand kommt‘, bekam er zur Antwort. Der Herr fraß gierig immer weiter. Der Besitzer des Pökelkellers hatte den Lärm gehört, kam und schlug den dick gefressenen Herrn tot, während der Knecht sich mit einem Sprung durch das Loch rettete.

Nun?“

„Ich kann auch hier keine Lüge erkennen.“

„Die besten Lügen sind die, die nicht als Lügen wahrgenommen werden,“ sagt der Psychiater. 

„Dir ist also gar nichts an dieser Geschichte aufgefallen?“

„Doch, schon, wenn Du mich so fragst…“

Der Wolf denkt nach.

„Der Herr in Deiner Geschichte hat auch immer Hunger, genau wie ich. Und am Ende ist er tot. In den beiden Geschichten, die ich Dir erzählt habe, bin ich am Ende auch tot. Man hat mich aufgeschnitten und mir den Bauch mit Steinen gefüllt und mich ertränkt, als Strafe für meine Unersättlichkeit.

Bin ich wirklich tot und träume nur, dass ich bei Dir auf der Couch liege?“

„Du bist nicht wirklich. Du bist eine Phantasie, und Phantasien sterben nicht. Weil Du eine schreckliche Phantasie bist, haben die Menschen Dich ausgerottet, aber Du bist zurückgekommen, und jetzt brichst Du wieder in Schafställe ein.“

„Das denkst Du Dir aus.“

„Ich denke mir nichts aus. Ich bin Psychiater.“

„Wie heißt Du eigentlich?“

„Fuchs.“ 

Dezember 2023